Sonntag, 11. Mai 2025

(Über-)leben zwischen Halleluja und SOS

Gottesdienst in Bodelshofen am 11.05.2025


Predigttext zum Sonntag Jubilate, in diesem Jahr in Württemberg der EKD-Opfer-Sonntag zugunsten der Seenotrettung:
Sprüche 8, 22-36


I.                   Ich – die Weisheit

Darf ich mich vorstellen?
Ich bins, Sophia.
Den Namen kennt ihr alle,
jetzt kennt ihr auch seine Bedeutung. „Weisheit“.

Es gibt mich schon immer.
Es gab mich schon vor der Erschaffung der Welt.
Ich bin ein Teil dessen, den ihr mit „Gott“ anredet.
Und bin die, die ihr alle sein wollt.

Der Herr hat mich, die Weisheit,
am Anfang seiner Schöpfung erschaffen.
Ich war das erste seiner Werke vor aller Zeit.
In längst vergangenen Tagen wurde ich geschaffen,
am Anfang der Erde, vor unvorstellbar langer Zeit.

Ich bin die Handwerkerin, die Ingenieurin,
die Bedienungsanleitung für diese Welt.
Ich weiß, wie das Leben gedacht ist,
wie die Erde gesund bleibt und
wie ihr Menschen gut leben könnt.

Ich bin ein Teil des Schöpfergottes,
deshalb kann ich auch ein Teil von euch sein.
Ein Teil von Euch, ihr Spiegelbilder Gottes.

Ich bin Sophia.
Und Du bist Sophia.
Salomo, der kluge König, war auch Sophia.
Und viele vor uns,
und viele, die nach uns kommen werden.  

II.                Big Sister

Ich bin Sophia.
Es gibt mich schon immer.
Ich habe die Welt erlebt ohne euch Menschen.
Die war gut. Wirklich.
Wir waren überaus zufrieden
mit der Schöpfung unseres Planeten:
Himmel und Erde, Wasser und Land, Sterne und Sonne,
Grünzeug überall – Efeu und Sumpfdotterblumen,
Gräser und Apfelbäume.
Das Klima hat funktioniert.
Und als die Tiere dazu kamen,
Erdmännchen, Kugelfische und Giraffen, Papageien,
Maulwürfe, Axolotl und Ameisenbären…
- hach, das war wirklich unterhaltsam.

Tag für Tag war es für mich eine Freude,
die ganze Zeit lachte ich an seiner Seite.
Ich war fröhlich, dass es den Erdkreis gab.

Und doch: ohne Euch hat was gefehlt.
Erst als ihr Menschen da wart,
war diese Erde eine runde Sache –
im wahrsten Sinne des Wortes.
Erst als es euch gab, schauten wir auf unser Werk
und waren wir so richtig zufrieden.
Es wurde geliebt und gefeiert, geplant und nachgedacht,
gelacht und geteilt.

Ich war fröhlich, dass es den Erdkreis gab,
und hatte meine Freude an den Menschen.

Wir waren uns einig: es war wunderbar,
was wir da erschaffen hatten.
Es war deshalb sehr gut,
weil wir nicht mehr mit der Erde alleine waren.
Wir hatten Menschen um uns herum,
die die Sehnsucht nach dem Leben mit uns teilten.
Göttliche Sehnsucht nach dem Vollkommenen.
Und nach dem Glück, das niemals aufhört.
Darin waren wir uns mit den Menschen einig.

 

III.              Error 404

Man kann sich fragen,
ob irgendwann ein Systemfehler passiert ist.
Irgendwann hat diese Erde nämlich nicht mehr funktioniert.
Quasi Error 404. Page not found. 

Ihr Menschen schafft es wohl nicht immer,
auf eure wichtigste Ressource zurückzugreifen:
auf mich, Sophia. Die Weisheit.
Wie es dazu kam?
Ich fürchte, es begann damit,
dass Menschen versuchten,
die Freiheit von anderen zu begrenzen.
Aus Angst, selbst zu kurz zu kommen.
Seither spielt ihr nicht mehr das Spiel des Lebens.
Seither kämpft ihr ums Überleben.
Immer im Katastrophenmodus.
Wollt alles mitnehmen, was geht.
Ihr seid am liebsten euch selbst der*die Nächste.  
Grenzt euch radikal von anderen ab.
Sichert materiellen Besitz und geistiges Eigentum.
Und so kommt es,
dass ich immer weniger von euch gefragt werde.
Wichtige Entscheidungen werden ohne mich,
Sophia, getroffen.
Weil ihr zu wissen glaubt, wie es geht.
Ihr versucht, möglichst viel richtig zu machen,
aber, so leid es mir tut:
ihr schafft es nicht, gerecht zu handeln. 
Und so wird euer Systemfehler größer statt kleiner.  

 

IV.            Fehlerprotokoll

Wenn Systemfehler sich ausweiten,
dann ist man nicht mehr nur selbst betroffen.
Dann bedingt eine Entscheidung die nächste.
Immer mehr kommt die Welt in Unordnung.
Und immer weniger gleicht das Miteinander der Menschen
einem fröhlichen Spiel.
So wie es ursprünglich gedacht war.
Es ist Krieg an so vielen Orten.
Und mit Krieg meine ich nicht nur den Krieg mit Waffen
um ein Land oder eine Region.
Mit Krieg meine ich auch den Kampf um Überleben,
weil wirtschaftliche Entwicklungen
menschenwürdiges Leben unmöglich machen.
Eine Folge eines solchen Systemfehlers ist das,
was rund um das Mittelmeer passiert:
Unzählige von euch fliehen in der Hoffnung,
dass jenseits des Mittelmeers eine bessere Welt auf sie wartet.
Unzählige von euch lassen Familie, Land, Tiere, Haus,
Hof und Freunde zurück, um neu anzufangen.
Unzählige von euch riskieren ihr Leben
auf einem kleinen Boot im Mittelmeer,
um irgendwo in Europa anzukommen.
Haben sie mich, Sophia, um Rat gefragt,
ehe sie losgegangen sind?
Ist es weise, sein Leben aufs Spiel zu setzen,
um auf gut Glück nach Europa zu kommen?  
Ist es weise, dort zu bleiben, wo der Tod wartet?
Ist es weise, sie alle nach Europa reinzulassen?
Egal, wie ihr eine dieser Fragen beantwortet:
Ich, Sophia, wage zu behaupten:
Immer wird durch die Antwort irgendwo im System
eine Fehlermeldung erzeugt.

V.               Weise sind auch die andern

Systemfehler kann man reparieren.
Eigentlich.
Manchmal braucht es nur einen Neustart.
Kennt ihr die AEG-Regel? 
Genau. Ausschalten, einschalten, gut. 
Also noch mal von vorne überlegen, fühlen und handeln.
Nochmal jemanden um Rat fragen, eine andere Zeitung lesen oder eine Zweitmeinung beim Arzt einholen.
Und dann macht man es anders.
Aber so einfach funktioniert es nicht immer.
Oft deshalb,
weil es nicht nur um Einzelne geht, sondern um Viele.
Manchmal braucht es umfangreichere Wartungsarbeiten.

Ihr jungen Leute, hört jetzt auf mich!
Glücklich zu preisen sind alle, die mir folgen.
Hört genau hin, damit ihr klug werdet!

Ich, Sophia, appelliere an viele.
Nicht nur eine*n braucht man,
um danach zu fragen, was weise ist.
Es ist immer gut, sich zusammenzutun.
Insbesondere dann, wenn es um Leben und Tod geht.

Wer mich findet, hat Leben gefunden,
und der Herr hat Gefallen an ihm gefunden.
Wer mich aber verfehlt, schadet sich selbst.
Alle, die mich hassen, lieben den Tod.

Ja, es geht tatsächlich um Leben und Tod.
Wenn ihr heute versucht zu beurteilen, ob es weise ist,
im Schlauchboot übers Mittelmeer zu schippern,
dann fragt genau danach: geht um Leben oder Tod?
Und für wen?
Ich, Sophia, wähle immer das Leben.
Ich stelle mich auf die Seite derer,
die vom Tod bedroht sind.
Egal aus welchem Grund.
Auf welche Seite stellt ihr euch?

 

VI.             Bündnis für das Leben

Ich bin Sophia.
Es gibt mich schon immer.
Ich habe die Welt erlebt ohne euch Menschen.
Die war gut. Wirklich.
Mit euch Menschen war sie sogar noch besser.
Sehr gut sogar.

Auch wenn es dabei nicht geblieben ist
und wir uns alle an regelmäßige Systemabstürze gewöhnt haben:
Ich will, dass die Welt - mit euch Menschen
eine sehr gute - wieder wird und bleibt.
Aber dafür seid ihr selbst verantwortlich.
Wie das geht? Seid weise.
Stellt die richtigen Fragen!
Fragen, die dem Leben dienen und nicht dem Tod.
Und stellt sie an die richtige Stelle.
Mein Ziel ist eine Welt, in der alle Lust am Leben haben.
Nicht eine Festung, in der die einen draußen 
und die anderen drinnen sind.
Ich wünsche mir eine Welt, in der alle Heimat finden,
nicht nur die Starken.
Eine Welt, in der man auch die hört,
die nur mit leiser Stimme reden und nicht nur die Lauten.
Und eine Welt, in der sich die Menschen zusammentun,
die dem Leben dienen wollen,
die sich für das Leben verbünden.
Verbünden zu Bündnissen, die laut dafür einstehen, dass Menschenwürde nicht verhandelbar ist.
Und auch zu Bündnissen,
die Schiffe losschicken und Flugzeuge,
um sinnloses Sterben zu verhindern.
Denn: „Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt!“

Ein Bündnis, das dem Leben dient,
ist United4Rescue.
Rund 1000 Organisationen,
darunter viele Kirchengemeinden, auch die in Wendlingen,
haben sich zu einem zivilgesellschaftlichen Bündnis zusammengeschlossen.
Ziel ist es, nicht nur die Arbeit der zivilen Seenotrettung im Mittelmeer zu unterstützen,
sondern auch für eine faire Asylpolitik einzutreten.
4 Schiffe und ein Flugzeug sind derzeit für United4Rescue unterwegs.
Und alle versuchen sie, nach Kräften, die Auswirkungen eines Systemfehlers zu lindern.

Die Seenotretter*innen erleben jeden Tag alles:
Sie feiern das Leben mit den Geretteten  
und trauern mit denen,
die einen Menschen verloren haben.
Sie reden über die Hoffnung
und helfen, Fluchterfahrungen und Traumata
zu verarbeiten.
Oft sind sie der Grund,
weshalb jemand überhaupt noch am Leben ist.

VII.         Zwischen Halleluja und SOS

Ich bin Sophia.
Erinnert euch an mich
und seht, wie wunderbar diese Erde ist -
aber seht auch eure Verantwortung.

Zwischen Halleluja und SOS bewegt sich das Leben,
nicht nur in der Seenotrettung.
Mal himmelhochjauchzend, mal zu Tode betrübt.
Oft gibt es keine einfachen Lösungen,
um einen Fehler im System zu beheben.
Und die einfachen, populistischen Lösungen -
die stammen nicht von mir.   
Deshalb:
Ringt darum, dass dem Leben dient, was ihr sagt.
Und dass dem Leben dient, was ihr tut.
Geht so miteinander um, dass ihr alle gut leben könnt.
Hört den Hilfeschrei,
das SOS der Menschen, die euch brauchen.
Und feiert das Leben mit allen,
wenn es einen Grund zum Feiern gibt.

Wer mich findet, hat Leben gefunden,
und der Herr hat Gefallen an ihm gefunden.

Amen.



Freitag, 18. April 2025

Licht an! Ostern!

Licht an! Ostern!
Impuls zur Osternacht auf dem Wendlinger Friedhof am 20. April 2025 

„Sag mal, wird’s nicht langsam Zeit, das Licht anzumachen? Es ist schon nach 5 Uhr und die Feldlerche ist schon beim großen Halleluja!“
Er steht etwas zerknittert auf der Schwelle der Balkontüre, in der Hand die große Kaffeetasse mit der goldenen Aufschrift „Hot and Holy“.
Seraffiel sitzt nachdenklich im Sessel auf dem Balkon.
In eine Decke eingewickelt lässt er seinen Blick in die Ferne schweifen. Währenddessen verbrennt sich Jesus am dampfenden Kaffee die Zunge.
„Was hältst du davon, wenn wir das Licht einfach mal auslassen?“ denkt Seraffiel laut nach. „Wir könnten so tun, als ob du niemals auferstanden bist. Wir lassen die Welt ab heute einfach dunkel.“
Seraffiel grinst und dreht sich um zu Jesus. Als Erster Engel und Personal Trainer von #GottimHimmel darf er riskante Vorschläge bringen.
Jesus schaut ihn irritiert an. „Aber warum? Das steht doch gar nicht zur Debatte!“ Jesus redet sich in Rage.
„Warte! Ich bin diesen ganzen schweren Weg gegangen, um mit den Menschen ihr ganzes Elend zu ertragen und sogar ihren Tod!“
„Ja, und?“ Seraffiel steht auf und bewegt sich zur Kaffeemaschine.
„Was und? Jetzt so tun, als wäre ich nie auferstanden ist doch Blödsinn!“
Seraffiel drückt auf den Knopf und der Kaffee rinnt in die Tasse. „Die sind so routiniert, die merken gar nicht, dass Du auferstanden bis und dass du lebst. Glaube mir – die meisten denken nicht mal drüber nach!“
Jesus schluckt. „Und du willst ihnen jetzt einen Denkzettel verpassen?“ „So ähnlich.“ Seraffiel lässt sich wieder in den Sessel fallen.
„Ich möchte, dass sie darauf warten, dass es hell wird. Dass sie verunsichert werden und beginnen, nervös Fragen zu stellen. Vielleicht beginnt dann wieder der eine oder die andere zu beten!“
Jesus schüttelt zweifelnd den Kopf. „Ich weiß nicht, ob das klug ist. Ich zwinge niemanden, mir zu vertrauen. Und ich glaube auch nicht, dass die Menschen sich besinnen, nur weil wir jetzt Weltuntergangsstimmung inszenieren.“
„Warum nicht?“ Seraffiel wirkt ein bisschen frustriert, weil Jesus seine gute Idee mehr oder weniger mit 5 Teelöffeln Zucker in den Kaffee rührt.
„Seraffiel, wir müssen die Dunkelheiten nicht noch unerträglicher machen. Schau dir diese Welt doch an! Schau mal rüber nach Butscha! Dort haben sie gerade mit einer alten Kalaschnikow eine Drohne vom Himmel geholt. Willst du es denen wirklich antun, dass es dort heute Dunkel bleibt?“
„Ja okay, da könnten wir vielleicht eine Ausnahme machen. Schließlich hängt davon ab, ob Europa weiterhin in Freiheit leben kann.“ Seraffiel klingt etwas zerknirscht.
„Und in Silivri in der Nähe von Istanbul: glaubst du, es hilft den Inhaftierten dort im Gefängnis, wenn es dunkel bleibt? Die sind dort eingesperrt, weil sie sich für Demokratie und Menschenrechte einsetzen!“
Seraffiels Engelsblick reicht bis dorthin und er beißt sich auf die Lippen. „Die brauchen Licht und Hoffnung!“ stellt er nachdenklich fest. „Richtig. Auch durch die Hölle von Silivri bin ich gegangen, Seraffiel! Damit die Menschen dort nicht resignieren. Und vor allem nicht aufhören, laut für Gerechtigkeit einzustehen.“
Jesus bleibt mit seinem Blick nachdenklich an Seraffiels Tasse hängen. „Für Pillepalle bin ich nicht zuständig“ steht darauf. „Wirklich?“


Jesus zeigt mit dem Finger auf die Aufschrift der Tasse. „Seraffiel, was ist für dich Pillepalle?“
„Na ja… die Sorgen der einzelnen, kleinen Menschen eben. Die Mathearbeit von Nele, der Brustkrebs von Frau Müller und der Rosenkrieg zwischen Lia und Henry. So Kram halt. Ich mein… wir können uns doch nicht um alles kümmern?“
Seraffiels Flügel flattern verdächtig aufgeregt.
„Doch Seraffiel. Genau bei diesen kleinen Dingen fängt nämlich Hoffnung an. Und Frieden. Aber um vieles kümmern sich die Menschen sogar selbst. Sie helfen einander, spenden Trost, ermutigen sich gegenseitig, nicht aufzugeben. Sie reichen sich sogar die Hände zur Versöhnung. Aber wenn sie es vergessen, dann brauchen sie dich. Damit du ihnen zeigst, wie es geht.“
Seraffiel zieht sein Engelsgesicht zu einer Grimasse.
„Seit über 2000 Jahren arbeiten wir täglich daran, dass Menschen die Hoffnung nicht aufgeben. Aber jeden Tag versemmeln sie es wieder. Beschimpfen sich. Sterben vor Angst - oder weil sie sich hassen und deshalb gegenseitig umbringen. Irgendwann muss es doch mal gut sein?“
„Irgendwann ist es gut, Seraffiel. Ja. Aber bis dahin ist es unsere Aufgabe, den Menschen Hoffnung zu geben. Auch in der Form, dass jeden Tag die Sonne wieder aufgeht.“
Seraffiels Gesicht wirkt in der Zwischenzeit nachdenklich. „Meinst Du, dass es auch deshalb gut ist, dass sie immer wieder, also genaugenommen jedes Jahr, daran erinnern?“
„Ja, genau das!“ stimmt Jesus zu. „Es ist so wichtig, dass sie sich immer wieder daran erinnern, dass einmal die Welt stillgestanden ist vor Schmerz. Und dass dieser Schmerz nicht nur mein Schmerz war, sondern auch ihrer.“ Seraffiel steht langsam auf.
„Wir sollten wohl doch das Licht anmachen, sonst denken sie wirklich noch, dass es vorbei ist mit der Hoffnung - oder?“ Fragend schaut er Jesus an. „Seraffiel, es gibt gar keinen Grund, die Welt im Dunkeln zu lassen. Meine Auferstehung ist zwar schon ewig her und auch jetzt in diesem Moment geschieht Schreckliches. Gleichzeitig gibt so viele Möglichkeiten, dass diese Welt ein guter Ort sein kann! Menschen können sich lieben, sich unterstützen, sich füreinander einsetzen! Und sie können auch in Frieden leben.“
Seraffiel blickt auf die Erde. Er hat eine Gruppe Menschen im Blick, die auf einem Friedhof um ein Feuer stehen. Ein paar haben Instrumente dabei. Fast alle haben Kerzen in der Hand. „Sie haben sich sogar in der Nacht auf den Weg gemacht, um gemeinsam an der Hoffnung festzuhalten.“ stellt Seraffiel fest. „Verrückt. Aber das macht sie stark!“
„Ja!“ bestätigt ihn Jesus. „Denen macht so schnell keiner was vor. Die wissen, wem sie vertrauen.“
Seraffiel durchquert das himmlische Wohnzimmer mit entschlossenen Schritten.
„Was hast du vor?“ Jetzt ist Jesus irritiert.
Seraffiel hat allen Zweifel verloren und drückt auf den Lichtschalter. „Na dann…“ sinniert er zufrieden:  
„Licht an! Ostern!“      Amen




Dienstag, 15. April 2025

Wider Erwarten... gesehen!

Passionsandacht
14.04.2025 

Eusebiuskirche









(Foto: Pixabay)


I. Markus 14, 3-9 

3 Und als er in Betanien war im Hause Simons des Aussätzigen und saß zu Tisch, da kam eine Frau, die hatte ein Alabastergefäß mit unverfälschtem, kostbarem Nardenöl, und sie zerbrach das Gefäß und goss das Öl auf sein Haupt. 4 Da wurden einige unwillig und sprachen untereinander: Was soll diese Vergeudung des Salböls? 5 Man hätte dieses Öl für mehr als dreihundert Silbergroschen verkaufen können und das Geld den Armen geben. Und sie fuhren sie an. 6 Jesus aber sprach: Lasst sie in Frieden! Was bekümmert ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. 7 Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr nicht allezeit. 8 Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im Voraus gesalbt zu meinem Begräbnis. 9 Wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat. 

 

II. Katthult   

Sicher kennt ihr alle Michel aus Lönneberga.
Ja, der kleine schwedischen Lausbub
mit den vielen Streichen.
Ständig hat er irgendjemandes Erwartungen
einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Auch, als er die Bewohner*innen
des Armenhauses an Weihnachten
zu einem großen Festmahl nach Katthult eingeladen hat.
Selbstverständlich wussten seine Eltern davon nichts.
Sie waren anderweitig eingeladen.
Was Michel in der Zeit tat,
tat er aus ganzem Herzen.
Weil er sah, wie diese alten und kranken Menschen
hungerten und froren.
Sie alle waren vom Leben gezeichnet.
Stinkend, zerzaust, halbtot gehungert
und insgesamt in einem desolaten Zustand waren sie.
Alle.
Alle, außer die „Komandora“,
die Leiterin des Armenhauses.
Ihr ging es gut.
Sie behielt nämlich alles für sich,
was eigentlich den Armen zustand:
die Wurst, den Schnupftabak für Stolle Jocke
und andere Dinge auch.  
Deshalb war sie auch in einem
recht vorzeigbaren Zustand
und ebenfalls außer Haus –
im Gegensatz zum Rest der Bewohnerschaft.
Sie war eingesperrt und wurde von Michel befreit.
Es war eine fröhliche Runde,
die – natürlich ohne die Kommandora –
in Katthult am Tisch saß.
Alle spachtelten, als ob es kein Morgen gäbe.
Bis alle Vorräte vertilgt waren.
Als die Eltern nach Hause kamen,
waren die Alten längst wieder im Armenhaus zurück.
Michel hat dafür mächtig Ärger bekommen
und musste lang im Tischlerschuppen sitzen.
Schließlich waren die Vorräte
für den Besuch gedacht,
der am nächsten Tag kommen sollte.
Aber Michel war das egal.
Die Armen hatten es nötiger.

III. Betanien

Betanien bedeutet übersetzt „Armenhausen“.
Es war das Armenhaus vor den Toren Jerusalems,
etwa 3 Kilometer außerhalb.
Ein ganzes Dorf, in dem die wohnten,
die besser außerhalb der Gemeinschaft bleiben:  
Lazarus zum Beispiel,
der von den Toten auferweckt wurde.
Er war so krank, dass er schließlich starb
und bestattet wurde.
Jesus hat ihn auferweckt,
als er schon gemüffelt hatte. Sonderbar.
Bei Lazarus wohnen seine Schwestern,
Maria und Martha.
Alle drei sind Freunde von Jesus.
In Betanien wohnt auch Simon, der Aussätzige.
Scheinbar hat er seine Krankheit überwunden.
Er empfängt wieder Besuch.
Dennoch war er von seiner Krankheit deutlich gezeichnet.
„Der Aussätzige“ – das war sein Unterscheidungsmerkmal.
Die Krankheit hat sichtbare Spuren hinterlassen.
Dort ist also Jesus zu Gast. In „Armenhausen“.
Bei den Menschen, die vom Leben nichts mehr erwarten.
Menschen, die dem Tod an manchen Tagen
näher waren, als dem Leben.
Jesus war bei Menschen,
die man gerne „auf Abstand hält“.
Sie riechen unangenehm.
Sie sagen unberechenbare Dinge.
Oder sie sitzen mit einem ausgelutschten
Starbucks-Pappbecher am Straßenrand,
und warten auf ein paar Münzen.
Mit denen gibt er sich ab.
Setzt sich mit ihnen an den Esstisch.   
Ja, Jesus.
Ausgerechnet der.

 

IV. 300 Silbergroschen 

Jesus sitzt inmitten der Armut
als sie neben ihm steht.
Eine Frau.
In der damaligen Gesellschaft
hatten Frauen nichts zu sagen.
Deshalb ist umso bemerkenswerter,
was geschah.
Es ist nur ein Sekundenbruchteil,
in dem ein Geräusch zu hören ist.
Kurz darauf spürt Jesus das Öl auf seinem Kopf.
Es duftet nach Myrre und Zimt.
Er schaut auf. Neben ihm steht Maria.
Jesus sucht noch nach Worten,
als die anderen Männer losdonnern:
„Was für eine Verschwendung!“
„300 Silbergroschen!“
„Was hast Du Dir denn dabei gedacht?“
„Du hättest es verkaufen können!
Dann hättest es für ein Jahr gereicht!“
„Und wenn du es selbst nicht brauchst,
dann verteil wenigstens das Geld im Dorf!
Schau dich doch um: so viele hätten es nötig!“

Es ist so menschlich, dass sie so denken.
Und eigentlich ganz wunderbar.
Sie sehen die Not und haben das Herz am rechten Fleck.
Wollen helfen.
Sehen einen Sinn darin, Geld für andere auszugeben.
Und sie wollten Jesus etwas zeigen:
„Wir haben verstanden, was Du uns gepredigt hast! -
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“
Kann – so betrachtet –
Jesus diese Verschwendung gutheißen? 


V. Wider Erwarten 

Wider Erwarten stimmt Jesus nicht ein
in die Schimpftiraden.
„Lasst sie in Frieden.
Sie hat ein gutes Werk an mir getan.
Die Armen habt ihr immer bei euch, mich nicht.“
Es ist nicht falsch, was gesagt wird.
Jesus bewertet das alles nicht.
Aber Jesus sieht, wer vor ihm steht.
Das macht den Unterschied.
Er sieht Maria.
Sie hat ihm zugehört, auch zwischen den Zeilen.
Und das erklärt er allen.
Maria hat eine Investition getätigt in die Zukunft.  
Nicht aus Pflichtbewusstsein.
Nicht aus einem sozialen Druck heraus.
Nicht weil sich etwas gehört
oder gesellschaftlich angemessen ist.

Vor Jesus steht eine Frau, die in völliger Freiheit
und Eigenverantwortlichkeit handelt.
Aus Liebe.
„Sie hat getan, was sie konnte und meinen Leib
im Voraus gesalbt für mein Begräbnis.“ 
Was das bedeutet, kann man nur erahnen.
Überliefert ist, dass die Salbung von Toten
im Judentum ein Liebeswerk ist.
Es ist das letzte „gute Werk“,
das man einem geliebten Menschen tun kann -
und bedeutsamer, als Almosen zu geben.

Eine Salbung bedeutet aber auch etwas anderes:
Du bist König und hast Macht von Gott.
Du bist der Messias.
Das hat Maria erkannt.

 

VI. …gesehen

„Lasst sie in Frieden!“ sagt Jesus deutlich.
Das ist keine Bitte, das ist ein Befehl.
Wie ein Schutzraum aus Worten
legt sich dieser Satz um Maria.
Und er ist nötig.
„Lasst sie in Frieden!“
Wer in einem Dorf wie Betanien lebt,
kennt die Energie, die aus der Armut wächst.
Der soziale Druck ist groß.
Man hätte gerne populäre Entscheidungen
und großzügige Geldgeschenke,
um Druck aus dem Kessel zu nehmen.
Eine Politik, die heute spürbare Entlastung bring.
Nicht eine, die eine bessere Zukunft
in den Blick nimmt.
„Lasst sie in Frieden!“
Maria ist nicht unzerstörbar.
Und Jesus weiß das.
Jesus schützt Maria, die ihr Innerstes und
ihre tiefste Überzeugung nach außen teilt.
Er sieht ihre Dünnhäutigkeit,
fürchtet zurecht, dass sie
an diese Geschichte zerbrechen könnte.
Schließlich hat sie, aus Sicht der Menschen,
ein Jahresgehalt zum Fenster hinausgeworfen.  
Der Mob weiß das.
Und er hat Macht.
Und sie fuhren sie an – heißt es da.
Das ist eine sehr klare Umschreibung
einer gefährlichen Lage.

„Lasst sie in Frieden!“
Ob Maria so im Mittelpunkt stehen wollte?
Vermutlich war es gar nicht ihre Absicht.
Sie hat vielleicht gar nicht bedacht,
was passieren könnte,
wenn sie Jesus auf die Weise ihre Liebe zeigt.

Vielleicht hat sie noch nicht einmal damit gerechnet,
dass Jesus sich so vor sie stellt.
Sie sieht.
Sie schützt.
 

Für mich ist das an der Geschichte wichtig.
Es ist kein Zufall.
Weil er das getan hat,
wurde diese Geschichte weitererzählt.
Die Geschichte einer Frau,
die tut, was ihr auf dem Herzen liegt.

Deshalb – wider Erwarten - gesehen wurde.
Von Jesus
und allen anderen auch.
Amen.


Sonntag, 16. März 2025

Hinter Mauern: The Zone of Interest

„Hinter Mauern“

Predigt im Kino-Gottesdienst
am 16.03.2025 zum Film
„The Zone of Interest”

Eine Annäherung an Film und Wirklichkeit in 5 Schritten.

 

I.                    „The Zone of Interest”

Der Garten der Familie Höss ist ein Paradies:
mit seinen Bäumen und Beeten,
den Blumen, den ordentlichen Wegen
und dem Schwimmbad.
Darin ein Haus, in dem man
als Familie mit 5 Kindern sehr gut leben kann.
Ein Traumhaus. Heimat und Rückzugsort.
Ein guter Ort. Davon ist Hedwig Höss überzeugt.
Und auch die Kinder scheinen das so zu sehen:
Der Ausflug mit dem Kanu im nahegelegenen Fluss,
die unberührte Natur, das Baden und Planschen –
eine Idylle für Kinder - wenn die Mauer nicht wäre.
Und das Dahinter.
Denn hinter der Mauer
ist das Konzentrationslager von Auschwitz.
Arbeitsplatz des bilderbuchvorlesenden
und liebevollen Familienvaters Rudolf Höss.
Man sieht es nicht. Aber man hört es.
Man hört den ankommenden Zug, tosende Öfen,
Gewehrschüsse und Angstschreie.
Dauernd. Bei Tag und bei Nacht.
„Der Horrorsound des Naziregims“ –
so titelt der Deutschlandfunk
den oscargekrönten Sound,
der sich wie ein zweiter Film auf die Familienidylle legt.
Das Grauen ist allgegenwärtig,
und so passiert es, dass man beim Baden im Fluss
plötzlich menschliche Knochen in den Händen hält.
Mit der Strömung kommt eine große Wolke menschlicher Asche,
die an der Haut, in den Haaren
und in Ohren der Höss-Kinder klebt.
Judenasche.
Das Grauen klebt förmlich auf der Haut.
Man muss sie abschrubben.
Als wäre Judenasche besonders gefährlich oder ekelhaft.
Die zufällige Begegnung mit dem Grauen
geht auf im Alltag zwischen Blumenbeeten
und den Plänen für den nächsten Ofen
zur Kremierung der Leichenberge.
Dazwischen schützend die Mauer.
Das ändert sich auch nicht,
als Rudolf Höss nach Oranienburg versetzt wird
und Hedwig mit den Kindern
voller Überzeugung zurückbleibt.
Die Idylle bleibt. Und die Mauer bleibt.
Und das Grauen bleibt auch.
Bis zum bitteren Ende. Für alle.
Auch für Rudolf Höss,
der 1947 als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt
und in Auschwitz hingerichtet wurde.
Heute, rund 80 Jahre
nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz,
bleibt die Erinnerung.
Die Erinnerung daran,
was Menschen einander antun können.
Aber auch die Erinnerung daran,
wie Menschen sich offensichtlich
in einer Welt zurechtfinden,
die das Böse sucht.
Und es ist die Erinnerung daran,
dass eine Mauer
nicht ungeschehen macht,
was hinter ihr passiert.

Musik

 

II.                  Mauern

Mauern stehen nicht zufällig da.
Mauern werden gebaut, weil sie eine Aufgabe haben. 
Sie trennen das eine vom anderen.
Ein Zaun oder ein Vorhang ist etwas anderes
als eine fest gebaute und unverrückbare Mauer,
aus Stein gebaut oder aus Beton gegossen.
Eine Mauer hält vielem Stand.
In Auschwitz trennt sie in drinnen und draußen.
Drinnen der Tod und das Grauen –
draußen das Leben und die Schönheit.
Drinnen gefangene Menschen, dem Tod geweiht,
draußen scheinbar freie Menschen,
die ein - für ihre Zeit und ihre Verhältnisse -
gutes Leben führen können.
Drinnen Menschen, die jüdisch, schwul, krank sind,
eine Behinderung haben
oder sich auf die Seite all derer gestellt haben -
draußen Menschen,
die sich einer gesellschaftlichen Elite zugehörig wissen
und sich selbst als privilegiert inszenieren.
Drinnen die Opfer des Nationalsozialismus in der Falle –
draußen die Täter:
Schergen eines totalitären
und menschenverachtenden Systems.
Dazwischen die Mauer, die die beiden Welten trennt.
Nur wenige können sich
frei zwischen den Welten bewegen.
Darunter Rudolf Höss und seine Kompagnons,
die das System am Laufen halten.
Und dann ist da das Mädchen, das die Äpfel versteckt –
bei dem das Drinnen und Draußen
im Schutz der Nacht verschwimmt.
Es ist ein starker Kontrast,
den Regisseur Jonathan Glazer hier bewusst erzeugt.
Und er erinnert mich
an die Urszene von drinnen und draußen.
Von Gut und Böse, von Paradies und Hölle.
Damals, als der Mensch zum ersten Mal
frei war in seinen Entscheidungen.
Entweder – oder sagen konnte
und die Schlange ihn vor die Wahl gestellt hat.
Damals, im Garten Eden,
als alles ein Paradies war –
das Gott nach dem Sündenfall
vor dem Menschen schützen musste.

Östlich des Gartens Eden stellte er Kerubim
und das lodernde Flammenschwert auf,
das den Zugang zum Baum des Labens bewachen sollte.
(Gen 3,24) 

Da war sie, die erste Mauer.
Zwar aus einem Engel und einem lodernden Schwert,
aber eine Mauer. Unüberwindbar.
Eine Mauer die das Böse vom Guten trennt,
das Paradies von der Hölle
und den Tod vom Leben.
Seither denkt die Menschheit in diesem Schema,
in dieser Dialektik, die immer die Hoffnung befeuert,
selbst auf der richtigen,
der besseren Seite der Mauer zu stehen. 
Tief eingebrannt ist das ins kollektive Gedächtnis.
Auch in meines.
Will ich das wahr haben?

Musik

 

III.                Mauern geben Sicherheit

Wenn man sich auf der richtigen Seite der Mauer wähnt,
ist man sicher.
Das ist der Sinn einer Mauer.
Und wir kennen das aus der Geschichte von Stadtmauern.
Sie gaben Schutz vor feindlichen Angriffen,
Hochwasser, Feuer und Sturm.
In vielen Städten finden wir noch Überreste der Mauern,
die auch unsere Städte, auch Wendlingen,
einst zu sicheren Orten machten.
So auch die Stadtmauer von Jerusalem.
Sie war seit jeher ein wichtiges Bauwerk.
Im Buch Nehemia wird detailreich geschildert,
wie das Volk Israel ca. 450 vor Christus die Stadtmauer
nach der Rückkehr aus Babylon wieder aufbaut
und wie gewissenhaft und gründlich dabei vorgegangen wird.
Es ist quasi ein biblischer Architektenplan für einen Ort,
an dem man mit Leib und Seele gut leben kann.
Und es wird deutlich:
Gott will, dass sich Menschen sicher fühlen.
Dass sie in der Lage sind,
sich zu schützen vor dem Bösen.
Hedwig Höss hat das für sich so umgesetzt.
Sich ihr eigenes Reich,
ihr eigenes, sicheres Paradies erschaffen.
Als gäbe es das Grauen hinter der Mauer nicht,
hat sie Beete bepflanzt,
blütenweiße Wäsche getrocknet, Gäste bewirtet
und ihr Familienleben am Laufen gehalten.
Sie hat ihren 5 Kindern ein Zuhause geschaffen.
Und auch Rudolf, der auf der anderen Seite der Mauer
seinem gnadenlosen Beruf nachging
als Kommandant des Vernichtungslagers,
ist zu Hause ein liebevoller Familienvater.
Eines Tages kommt die Nachricht,
dass er versetzt werden soll.
Für Hedwig eine Katastrophe.
Diesen sicheren Ort aufgeben? Niemals!
Deshalb bleibt sie mit den Kindern dort.
Aus Überzeugung.
Sichere Orte zu schaffen ist so wichtig,
schon immer und zu allen Zeiten.
Es ist ein gewagter Erklärungsversuch,
aber für mich en plausibler:
aus der Traumatherapie
kennen wir den „inneren sicheren Ort“,
einer der wichtigsten psychotherapeutischen Skills.
Wenn Menschen in der Lage sind,
sich einen sicheren Ort zu schaffen,
dann kommen sie mit dem,
was um sie herum besser klar.
Sie sind „resilient“ – so der Fachbegriff.
Man ist damit in der Lage,
schlimmste emotionale Belastungen zu regeln -
und trotzdem zu funktionieren.
Was beim Anschauen das Films
als unerträgliche Allgegenwart des Vernichtungslagers
alles überschattet,
scheint deshalb das Familienleben
überhaupt nicht zu beeinträchtigen.
Man kann es als zynisch empfinden.
Dennoch ist es Hedwig Höss ist offenbar gelungen,
im Schutz der Mauer von Auschwitz
einen sicheren Ort zu schaffen.
Im Film wird das deutlich,
als ihre Mutter zu Besuch ist und vorzeitig abreist –
weil sie all das überhaupt nicht ertragen kann,
was sie erlebt.
Es ist derselbe Ort, aber sie hält nicht aus,
was sie dort wahrnimmt.
Hört, riecht, sieht, fühlt. 

Musik

 

IV.               Hinter Mauern

Wer auf der falschen Seite der Mauer ist, hat es schwer. 
Was für die einen Sicherheit und Schutz bietet,
ist für andere eine Falle.
Nirgends wird das so deutlich,
wie in der gnadenlosen Geschichte der Konzentrationslager.
Die Mauer von Auschwitz
ist die todbringendste Mauer der Welt.
Vermutlich sind in nur 5 Jahren
rund 1,1 Millionen Menschen
hinter der Mauer getötet worden. 
Niemand durfte wissen,
was hinter den Mauern passierte.
Auch hier in der Nähe, in Grafeneck,
befand sich ein solches Vernichtungslager.
Das Gelände von Schloss Grafeneck
wurde der Samariterstiftung im 3. Reich weggenommen.
Dort wurden in den Jahren 1940/41 
in der „Geheimen Reichssache Grafeneck“
10.654 Menschen ermordet und verbrannt.
Menschen mit Behinderungen
aus verschiedenen Einrichtungen im Südwesten
wurden in grauen Bussen dorthin transportiert.
Und es wurde getestet,
wie man Menschen in größerer Anzahl
systematisch und industriell ermorden konnte.
Dieses Wissen wurde unter anderem
auch in Auschwitz eingesetzt.
Ein großer Teil des Grafeneck-Personals
arbeitete später in anderen Vernichtungslagern
wie Treblinka oder Sobibor.

Auch hier: Was hinter der Mauer passierte,
durfte niemand wissen.
Als allerdings die Bevölkerung der Umgebung,
die Angehörigen, Anstalten und die Kirchen
zunehmend Fragen stellten
und es kein Geheimnis mehr war,
wurde das Morden in Grafeneck beendet.
Grafeneck ist heute Gedenkstätte –
und das Gelände wieder im Besitz der Samariterstiftung.
Heute sind dort Menschen mit Behinderung
und chronischen psychischen Erkrankungen zu Hause.

Angesichts dessen,
was damals hinter Mauern passiert ist,
erwächst Verantwortung im Hier und Jetzt.
Verantwortung für die,
die nicht für ihren eigenen Schutz sorgen können.
Heute wissen wir das.
Und wir gehen dafür auf die Straße,
damit #niewieder #niewieder bliebt.
Und doch: Da ist arm oder reich,
Christ oder Muslima,
gesund oder krank – auch psychisch,
Mensch aus Bayern oder Afghanistan,
behindert oder nichtbehindert,
dunkelhäutig oder blond,
Oma gegen rechts oder CDU-Parteimitglied -
plötzlich steht sie in der Zeitung
und hängt fest in den Köpfen,
die Mauer zwischen Menschen.
Es wird gemauert an den Rednerpulten des Politikbetriebs
und in den Kommentarspalten der sozialen Medien.
Es wird gemauert
zwischen Nachbarinnen und an Stammtischen.
Es wird gemauert in der Hoffnung,
dass es die richtige Seite der Mauer tatsächlich gibt -
und selbstredend auch,
dass man sich dort selbst befindet. 

Musik


V.                  Gott vor oder hinter der Mauer?

In all diesen Überlegungen
drängt sich mir noch eine Frage auf.
Eine Wichtige.
Wo war eigentlich Gott?
Wo war Gott in Auschwitz?
Vor der Mauer? Hinter der Mauer?
War er überhaupt da?
Spielt er eine Rolle
in diesem fürchterlichen Kapitel unserer Geschichte
und der Geschichte des Volkes,
zu dem Gott einst gesagt hat:

„Wenn du ins Feuer gehst, wirst du nicht brennen,
und die Flamme wird dich nicht versengen.“? (Jes 43,2)

Hatte Gott das vergessen?
Der Schmerz, das Trauma ist bis heute unfassbar groß.
Viele Theologen, insbesondere jüdische,
haben versucht, diese Fragen zu beantworten.
Wenn ich jetzt versuche etwas von dem zu formulieren,
was ich meine verstanden zu haben,
dann tue ich das mit großer Vorsicht,
mit Demut und in dem Bewusstsein,
dass ich in einem generationenübergreifenden,
bis heute reichenden Trauma
in der Rolle einer Täterin bin.
Und ich stehe hier auch in dem Bewusstsein,
dass in den Reihen meiner Vorfahren
überzeugte Täter waren.

Zwei Deutungsversuche legen sich für mich
wie eine Klammer um diese Geschichte.
Der jüdische Religionsphilosoph Eliezer Berkovits schlussfolgerte, 
dass Gott im Holocaust sein Angesicht verborgen hat.
Und er tat dies,
um den Menschen Raum für Freiheit zu geben –
damit das Gute und das Böse
gleichermaßen stark werden können.
Oder auch: Gott gibt dem Menschen die Freiheit
sich selbst zu beweisen,
zu allem fähig zu sein. 
Im Guten, aber genauso im Bösen.
Diese Freiheit in allen Entscheidungen
ist Teil der Schöpfung. Ist gottgewollt.
Ist genaugenommen das Wesen Gottes.
Und Gott geht weit damit:
Soweit, dass er sich nicht
als allmächtiger Gott inszeniert,
damit Menschen frei bleiben in ihren Entscheidungen,
so bitter sie auch sein mögen.

Daneben steht die Idee
des KZ-Überlebenden Emil Fackenheim.
Er sagt, dass in der Nazi-Zeit
ein Ruf Gottes hörbar wurde:
nämlich das Gebot, trotzdem weiter zu glauben.
Einen „Trotzdem-Glauben“.
Seine Begründung:
Wer an Gott zweifelt, übernimmt Hitlers Job.
Denn mit dem Zweifel an Gott
wird das Volk Gottes und sein Erbe,
seine Traditionen und seine Identität aufgegeben.
Deshalb fügte Emil Fackenheim
den 613 jüdischen Geboten ein weiteres hinzu.
Es lautet:
„Den Juden ist es verboten, Hitler posthume Siege zu verschaffen.
Es ist ihnen geboten, als Juden zu überleben,
damit das jüdische Volk nicht untergeht.“

Wenn ich diese Deutungen ernst nehme,
dann ergibt sich für mich - auch im Hier und Jetzt - ein Bild.
Ein Trotzdem-Bild.
Ein Bild, das den Schrecken zeigt,
aber gleichzeitig vom Leben erzählt.
Und vom Über-Leben.
Ich denke dabei an die jüdischen Geiseln
in den Tunnelsystemen der Hamas,
und an deren Angehörige,
die sich weigern, die Hoffnung aufzugeben.
Ich denke an die Menschen in der Ukraine,
die immer noch keinen Ausweg sehen aus dem Krieg,
aber im Kleinen versuchen, am großen Europa teilzuhaben.
So wie Rosalie, die aus ihrem Hinterhof in Kiew heraus
handgeschnitzte Stempel verschickt – auch nach Deutschland.
Ich denke an traumatisierte Frauen und Männer,
die im Schutz von Kirchenmauern sexualisierte Gewalt erfahren haben
– und heute mutig ihre Stimme erheben im Betroffenenforum,
damit Kirche wieder glaubwürdig wird.
Ehrlich gesagt: es fällt mir oft schwer, zu sagen:
Gott ist da, auch in solchen Bildern.
Und es fällt mir schwer, trotzdem am Glauben festzuhalten.
Aber gerade darum ist es ein „Trotzdem-Glauben“.
Ein Trotzdem-Glauben, der mir hilft darauf zu vertrauen,
dass stimmt, was wir mit den Worten von Schalom Ben Chorin singen:
Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt,
ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?
Amen.




Samstag, 8. März 2025

Was ich mal zum Weltfrauentag loswerden wollte...

Weltfrauentag. Jetzt wo ich bei Sonnenuntergang auf dem Sofa liege (wohlgemerkt nach Putzen, Wäsche, Einkauf und Müllentsorgung), muss ich was dazu aufschreiben. Meinen heiligen Zorn in Worte fassen. Sorry, ihr müsst das jetzt aushalten - egal, welcher Chromosomensatz euch definiert. 
Also jetzt mal im ernst: was ist das denn? Frauen schicken sich gegenseitig Blumenbildchen und beglückwünschen sich zu... ja was denn... dass sie eine Frau sind? Ladies, echt jetzt? Wie bescheuert würden wir es denn finden, wenn sich Männer Bilder von Motorrädern und Kettensägen schicken zum Weltmännertag? Geht's noch? 
In einer Facebookgruppe fragt ein gutmeinender Boomer, was man(n) uns Frauen anlässlich dieses Tages Gutes tun könne. WTF!!! Was ist das für eine Frage, Jungs? Ihr wollt ernsthaft wissen, was man uns Frauen für einen einzigen Tag im Jahr Gutes tun kann? Kaffee ans Bett? Fußmassage? Den Müll rausbringen? Gönnerhaft bei Lieferando bestellen? 
Ich hab ein Schleudertrauma vom Kopfschütteln! 
Ein Kollege betet im Internet sinngemäß "Lieber Gott, stärke die Frauen für ihr Leben, gib ihnen deine Liebe und hilf ihnen, sich gegen Unannehmlichkeiten durchzusetzen und nicht aufzugeben." Himmel hilf!!! Wir wollen nicht mit Gottes Hilfe irgendwelche Unannehmlichkeiten überleben! Wir wollen, das es dieses System gar nicht gibt, das meint, Frauen permanent irgendwie definieren zu müssen - ach ja: natürlich aus der Perspektive männlicher Machtstrukturen. 
Und es beginnt schon damit, dass wir nicht jedes mal dazu sagen wollen, dass FLINTAS gemeint sind - nur um dann die Frage beantworten zu müssen: "Was zur Hölle sind FLINTAS"? (Tipp: googeln hilft!)
Wir wollen und brauchen keinen Weltfrauentag, weil man uns irgendwie feiern oder uns etwas gönnen müsste, damit wir den Rest des Jahres wieder die Klappe halten. 
Fazit: Wir sind sichtbar. Wir sind mutig. Wir haben dieselben Rechte. Und - ACHTUNG: das alles hat nix mit Blümchen zu tun, mit Kaffee am Bett oder einem gottgeschenkten Ertragenkönnen von durch toxische Rollenbilder und Strukturen erzeugte "Unannehmlichkeiten". Wir sind Frauen, weil wir Frauen sind. Ebenbild Gottes, die uns wunderbar gemacht hat. Tschakka! 💪 Amen!