Sonntag, 9. April 2023

Zwischenzeit

 


„In der Zwischenzeit ist ganz schön viel passiert!“
Jesus sitzt am Küchentisch. Vor ihm eine dampfende Tasse Kaffee, ein Stück Hefezopf und die Zeitung. In der liest er aufmerksam.
Es ist nicht so, dass Jesus eine Zeitung nötig gehabt hätte.
Schließlich ist er Gott und hat deshalb den Überblick über die Geschehnisse in Raum und Zeit - und es deshalb gar nicht nötig, jeden Tag über irgendwelche Dinge zu lesen, die in der Welt passieren. Aber Jesus liest trotzdem gerne Zeitung. Laut. Und er kichert dabei. „Tischtennis-Landesklasse. TSV Wendlingen 9:3 gegen den TGV Roßwälden. Läuft bei denen!“. Jesus nickt anerkennend.
„In der Zwischenzeit hat sogar der VfB mal gewonnen. 1:0 gegen Nürnberg. Das ist ja wohl mindestens bemerkenswert!“ Seraffiel lehnt für Engelsverhältnisse betont lässig im Türrahmen und hält sich an der Kaffeetasse fest. „Bisschen Auferstehung hat noch keinem geschadet, auch dem VfB nicht.“
„Korrekt!“ Jesus nickt anerkennend. „Es ist schon gut, dass die Menschen in der Zwischenzeit gelernt haben, auch kleine Erfolge zu feiern und wertzuschätzen.“
„Ach, deshalb bist du nicht frustriert?“
„Warum sollte ich frustriert sein?“ Jesus blickt den Engel erstaunt an.
„Weil sich kein Mensch 
mehr,“ so erklärt der Engel, „für die Kirche interessiert, für den Glauben. Und für dich schon gleich gar nicht! Dabei hast du doch alles gegeben! Aber: die kommen offensichtlich auch ohne Dich klar.“
„Stimmt!“ Jesus nickt zustimmend. „Ich hab alles gegeben. Aber wo genau ist jetzt dein Problem?“
„Lies doch mal: Die Zeit der Konfessionen geht zu Ende. Mit dem christlichen Gehalt des Osterfestes wissen viele Menschen nichts mehr anzufangen. Hier steht es schwarz auf weiß.“
„Konnten sie es damals?“ Jesus schaut Seraffiel irritiert an. „Immerhin musstest du als großer Fürchte-dich nicht-Engel erst mal hart durchgreifen, damit nicht alle davonrennen.“
Seraffiel atmet tief ein und aus. Und erinnert sich an damals, als Jesus zum ersten Mal auferstanden war und die Frauen ihn angesehen hatten, als hätten sie es mit einem Alien zu tun.
„Das war ja auch… äh… echt ne harte Nummer. Die wussten das doch gar nicht, dass du nicht tot sein würdest!“
„Stimmt. Aber auch damals war nicht allen klar, was sie mir bedeuten. Deshalb brauchte ich dich. Um den Menschen zu helfen, die Situation richtig einzuordnen.“ „Und heute??“ Seraffiel schenkt Kaffee nach. „Muss ich heute auch noch helfen, die Situation einzuordnen?“
„Natürlich. In der Zwischenzeit mag sich zwar vieles verändert haben in dieser Welt. Aber eines ist kein bisschen anders. Nämlich, dass mir diese Menschen sehr viel bedeuten.“ 
Jetzt schaut Seraffiel genervt und redet sich in Rage. „Jetzt dreh das doch nicht immer alles um! Du kannst die Menschen noch so sehr lieben! DU bedeutest den Menschen nichts! Oder nicht mehr viel! Du kannst sie noch so sehr lieben – wenn sie dich nicht zurück lieben – dann ist das doch völlig sinnlos!“
„Nein, es ist nicht sinnlos.“ Jesus bleibt überraschend ruhig. „Meine Liebe zu den Menschen ist nicht an Bedingungen geknüpft. Noch nicht mal daran, dass sie erwidert wird. Und deshalb kann ich sie auch nicht zwingen, an irgendetwas zu glauben. Egal, welche Religion.“
Seraffiel hat sich wieder einigermaßen im Griff, aber wenn sie jetzt schon dabei sind, dann will er dieses Thema mit Jesus ausdiskutieren.
„Aber was ist mit dem ganzen Schmerz? Mit dem Leid? Mit den ganzen Schlagzeilen, die die Menschen runterziehen? Eine tote 10jährige in der Jugendhilfe-Einrichtung. Fachkräftemangel in der Pflege. Klimaerwärmung, Krieg, Tod und Teufel. Herrgott nochmal! Da frag ich mich wirklich, was mein ‚Fürchte dich nicht‘ da noch bringen soll!“ Genervt schlägt Seraffiel etwas unengelhaft mit der flachen Hand auf den Küchentisch.
Das bringt Jesus allerdings nicht aus der Ruhe: „Ich kenn das. Sagt doch niemand, dass in der Zwischenzeit alles gut geworden ist. Ich mach das doch mit den Menschen alles mit. Glaubst du, ich wüsste nicht, wie sich all das anfühlt?
„Schon klar!“ erwidert der Engel. „Ich weiß, du bist der Einzige, der der da vollumfänglich mitreden kann.“
Und Jesus fügt hinzu: „Und ich bin der Einzige, der zuverlässig weiß, dass nach dem Tod nicht das Ende ist.“ Jesus steht auf und legt Seraffiel die Hand auf die Schulter. 
„Weißt du, Seraffiel, wir leben jetzt in der Zwischenzeit. Und deshalb sehen die Menschen alles wie durch verspiegeltes Glas als dunkles Bild. Sie sind noch gar nicht in der Lage, all das zu begreifen, was um sie herum ist. Aber eines Tages werden sie sehen, wie alles wirklich ist und wie die Dinge miteinander zusammenhängen. Jetzt erkennen sie nur stückweise, wie das mit dem neuen Leben einmal sein wird; am Ende aber werden sie mich erkennen und verstehen, wie alles wirklich ist. Bis dahin brauchen die Menschen dich. Dein Fürchte-dich-nicht. Und deinen Blick für kleinen Auferstehungswunder im Alltag.“ 
Seraffiel schaut nachdenklich aus dem Fenster, während Jesus sich wieder seiner Zeitung zuwendet.Über sein Gesicht huscht ein Lächeln, als er laut vorliest: „Vom Flüchtling zum Bürgermeister. Ryyan Alshebl floh 2015 über das Mittelmeer aus Syrien nach Deutschland. Er wird er Bürgermeister in Ostelsheim und der erste Rathauschef mit syrischen Wurzeln in Baden-Württemberg.“
„Das hätte sich vor ein paar Jahren noch niemand vorstellen können.“
stellt Seraffiel fest.
„Siehst du, Seraffiel, die Menschen können also durchaus unterscheiden, ob ihnen ein Fürchte-dich-nicht-Engel etwas ins Herz legt oder Hui-Buh, das Schlossgespenst. Du hattest da doch die Finger im Spiel?“
Seraffiel grinst. „Natürlich. Und beim VfB auch.“
 

Dienstag, 4. April 2023

Passion klingt anders: Durch die Nacht (Silbermond)

Durch die Nacht (Silbermond) 
Foto: Unsplash

Passionsandacht
Eusebiuskirche 
04. April 2023


Die Nacht,
sie lässt sich nicht ausknipsen.
Nicht im Kopf, nicht im Herzen.
Schon gleich gar nicht diese Nacht.
Eine Nacht in der man die Hand nicht vor Augen
und den Schleier nicht vor der Seele sieht.
Eine Nacht, von der man nur weiß, dass sie ist.
Ich bin ein Teil von ihr.                                         
Und die Nacht ist ein Teil von mir.                      
Und ihr Ende ist noch nicht in Sicht.  


Die Nacht,
sie knipst alles andere aus.
Die Welt verschwindet im Nichts.
Was anderswo stattfindet,
spielt keine Rolle.
Was geschieht, geschieht hier.
Bei mir. Mit mir. In mir.
Ich bin die Welt in dieser Nacht.   
Die Stille ist ohrenbetäubend.
Sie wird durchbrochen
durch das Zirpen von Grillen
und das Knacken alter Bäume im Wind.
Nacht in Gethsemane. 

Diese Nacht,
sie verändert alle.

Jesus.
Petrus, Johannes und Jakobus.  
Mich.

Ich lese aus dem Matthäusevangelium, Kapitel 26

Da kam Jesus mit ihnen zu einem Garten,
der hieß Gethsemane, und sprach zu den Jüngern:
Setzt euch hierher, solange ich dorthin gehe und bete.
Und er nahm mit sich Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus
und fing an zu trauern und zu zagen.
Da sprach Jesus zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis an den Tod;
bleibt hier und wachet mit mir!
Und er ging ein wenig weiter, fiel nieder auf sein Angesicht
und betete und sprach:
Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber;
doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst!
Und er kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend und sprach zu Petrus: Konntet ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?
Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt!
Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach.
Zum zweiten Mal ging er wieder hin, betete und sprach:
Mein Vater, ist’s nicht möglich, dass dieser Kelch vorübergehe,
ohne dass ich ihn trinke, so geschehe dein Wille!
Und er kam und fand sie abermals schlafend,
und ihre Augen waren voller Schlaf.
Und er ließ sie und ging wieder hin
und betete zum dritten Mal und redete
abermals dieselben Worte.
Dann kam er zu den Jüngern und sprach zu ihnen: 
Ach, wollt ihr weiterschlafen und ruhen?
Siehe, die Stunde ist da, dass der Menschensohn
in die Hände der Sünder überantwortet wird.
Steht auf, lasst uns gehen!
Siehe, er ist da, der mich verrät.

 

Die Nacht, sie lässt sich nicht ausknipsen.
Nicht für Jesus.
Er weiß um die Bedeutung der Nacht.
Und er weiß, dass die Nacht der Welt begonnen hat.
Die Nacht der Welt, die zugleich seine Nacht ist.
Die Nacht in Gethsemane,
in der er ganz Mensch ist.
Angst hat. Betrübt ist bis in den Tod.
und am liebsten weglaufen will vor dem, was kommt.
Die Nacht in Gethsemane,
in der er trotz allem weiß,
dass es nicht in seiner Macht steht,
was mit ihm geschieht.
Die Nacht, in der er sich selbst ausliefert.
Seinem Vater: Nicht, wie ich will, sondern wie du willst.


Ich will weg von hier                                                
Doch ich weiß, egal, wohin ich lauf'
Das mit dir hört nich' auf
Sag mir, wann hört das auf
Und ich kämpf' mich durch die Nacht
hab' keine Ahnung, was du mit mir machst
Ich krieg' dich nich' aus meinem Kopf und dabei will ich doch
(Silbermond) 

Die Nacht, sie lässt sich nicht ausknipsen.
Nicht für Petrus, Johannes und Jakobus.
Drei Männer, die bei Jesus sind.
Sie haben einen Job zu machen:
Sitzen – bei ihrem Freund.
Wachen und beten.
Und die Nacht mit aushalten,
während sich Jesus durch seine Nacht kämpft.
Gar nicht so einfach, diese Arbeit:
Sitzen und die Nacht mit aushalten.
Es ist nicht nur die Nacht in Gethsemane.
Es ist auch die Nacht ihrer Welt.  
Sie kämpfen gegen die Dunkelheit in der Seele und im Herzen.
Gegen die Müdigkeit und die Schwere des Mitaushaltens.
Sie kämpfen sich durch die Nacht,
um dabei erschöpft einzuschlafen
und sich einzugestehen:
Der Geist ist willig,
aber das Fleisch ist schwach.
Wir schaffen diese Nacht nicht.
Diese Nacht schafft uns.

Alles würde sich verändern, wenn ich dich nich' mehr wiederseh'
Ich will weg von hier
Doch ich weiß, egal, wohin ich lauf'
Das mit dir hört nich' auf
Sag mir, wann hört das auf
Und ich kämpf' mich durch die Nacht
Hab' keine Ahnung, was du mit mir machst
Ich krieg' dich nich' aus meinem Kopf und dabei will ich doch
Und ich kämpf' mich durch die Nacht
Bin unter Tränen wieder aufgewacht
Ich krieg' dich nich' aus meinem Kopf und dabei muss ich doch 

Die Nacht lässt sich nicht ausknipsen.
Nicht die Nacht in Gethsemane
und nicht die Nacht auf Golgatha.
Auch nicht die Nacht in den Seelen vieler.
Nicht die Nacht in meiner Seele.
Und ich kämpf' mich durch die Nacht
Bin unter Tränen wieder aufgewacht.

Viele Nächte sind seither
gekommen und gegangen.
Viele Nächte wurden
seit jener Nacht in Gethsemane
durchwacht und durchkämpft. 
Viele Nächte sind es
Nacht für Nacht
und Tag für Tag.   


Nächte an Krankenbetten und über Abschiedsbriefen.  
Nächte in Bunkern unter zerstörten Städten.
Nächte in Kasernen und an Regierungstischen.
Nächte in missbrauchten Kinderseelen und
Nächte in einsamen Herzen.
Nächte über dem Kontoauszug.
Nächte im aufblasbaren Gummiboot zwischen Benzin und Fäkalien und
Nächte in den Gedanken derer, die wissen:
meine Liebsten sind da draußen auf dem Mittelmeer.
Nächte in der Unfallchirurgie und
Nächte am Bett der Intensivstation.

Die Nacht lässt sich nicht ausknipsen.
Nicht die Nacht in dieser Welt und
nicht die Nächte in meiner Seele.

Nächte sind lang,
wenn ich nichts ändern kann an der Situation.
Nächte sind lang,
wenn ich mit meinem Innersten alleine bin,
und die dünnhäutigen Stellen immer mehr werden.
Wenn ich mir Fragen stelle, auf die niemand eine Antwort hat.
Und wenn etwas in mir so zerbrochen ist,
dass es kaum mehr gut werden kann.
Nächte sind lang, wenn da niemand ist,
der mit mir wach bleibt
und aushält
und meinen Schmerz mit erträgt. 

Für Jesus war diese Nacht lang.
Drei Mal hat er seinen ganzen Schmerz
in Worte gefasst.
Drei Mal hat er sich gewünscht, nicht alleine
in der Nacht ausharren zu müssen.
Und doch:
Drei Mal musste er feststellen: Es war zu viel.
Zu viel für diese Freunde, die mit ihm waren –
und die ihn dann doch in seinem Schmerz allein ließen.

Für Petrus, Johannes und Jakobus war diese Nacht lang.  
Drei Mal haben sie versucht,
zu tun, was Jesus ihnen gesagt hat:
zu wachen und zu beten.
Drei Mal haben sie angekämpft gegen die Müdigkeit
und gegen die Schwere ihrer Augenlider.
Drei Mal hat Jesus sie schlafend vorgefunden.  
Drei Mal sind sie gescheitert an ihrer Aufgabe,
der Nacht die Stirn zu bieten. 

Drei Mal.  
Drei Mal, nach denen Jesus hätte sagen können:
Wisst ihr was? Ich machs alleine.
Ich kämpf mich alleine weiter durch die Nacht.
Wer sich auf euch verlässt, ist verlassen.
Aber das tut Jesus nicht.
Jesus lässt Petrus, Johannes und Jakobus
nicht in der Nacht zurück.
Es ist ein kleiner Satz,
der unscheinbar zwischen zwei großen Sätzen steht:
„Steht auf, lasst uns gehen!“

Jesus nimmt seine Freunde mit auf den Weg.
Wissend darum, dass er bald verhaftet wird -
und einer bereit ist, ihn zu verraten.

„Steht auf, lasst uns gehen“.

Jesus traut seinen Jüngern viel zu.
Oder müssten wir nicht sagen:
Er mutet ihnen viel zu?

Es ist eine Momentaufnahme.
Im Rückspiegel wissen wir,
dass alles, was danach kam, noch viel schlimmer wurde. 

„Steht auf, lasst uns gehen.“:
ein kleiner Satz, der eine
ausweglos scheinende Situation auflöst.
Ich glaube, dieser Satz kann mehr,
als man ihm im ersten Moment zutraut.
Es ist ein Satz für viele Nächte,
nicht nur die von Jesus, Petrus, Johannes und Jakobus.
Es ist auch ein Satz für die Nächte von uns allen.  
„Steht auf, lasst uns gehen!“,
das bedeutet für mich:
Ich will nicht mehr verharren in der Nacht
und in der Situation, die weh tut.
„Steht auf, lasst uns gehen!“,
das bedeutet für mich:
ich bin nicht alleine. Andere sind mit mir.
Sind mit mir - mit dem ganzen Schmerz und den Sorgen.
Und mit diesen ganzen Gefühlen.
Sie alle kennen die Nacht.
Wie Jesus.
Wie Petrus, Johannes und Jakobus
in der Nacht in Gethsemane.
Wie ich.
Und deshalb:
„Steht auf, lasst uns gehen.“
im Vertrauen darauf:
egal, wohin ich lauf'
das mit dir hört nich' auf
Damals nicht
in Gethsemane und auf Golgatha.
Und heute auch nicht.

Amen.