Sonntag, 24. Oktober 2021

An diesem Dienstag.


Gottesdienst in Bodelshofen
am 24.10.2021

Matthäus 10,34-39 

Die Woche hat einen Dienstag.

Das Jahr ein halbes Hundert.

Das Leben hat viele Dienstage.

(In Anlehnung an „An diesem Dienstag“ von Wolfgang Borchert; Fotos: Unsplash) 


An diesem Dienstag
sitzt Nele am Küchentisch.
Der Kaffee dampft aus der Tasse.
Draußen hüllt der Herbstnebel
alles in dunkles Grauweiß.
Die Kirchturmuhr schlägt vier Mal
und dann sieben Mal.
Ein Blick aufs Handy –
Leo hat sich heute noch nicht gemeldet.
Sie scrollt einmal durch.
Instagram.
Viele Fotos.  
Von Vielen.
An einem bleibt sie hängen.
Ein Foto unter vielen.
Ein christliches – so mit Bibelvers.
Eine Friedenstaube, gemalt auf eine Mauer.
Ein Schwert.
Und ein: „Jesus sagt“.
Nele schaut irritiert aus dem Fenster.
Sie muss nachlesen.
Wenn sie heute Mittag wieder zu Hause ist.
Vor dem Fenster frisst eine Taube
ein Stück weggeworfenes Brot.  

    Die Woche hat einen Dienstag.
    Das Jahr ein halbes Hundert.
    Das Leben hat viele Dienstage.

An diesem Dienstag
steht im Matthäusevangelium
wie an allen Dienstagen seit unserer Zeitrechnung:

Denkt ja nicht, dass ich gekommen bin, um Frieden auf die Erde zu bringen!
Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert.
Ich bringe Streit zwischen einem Sohn und seinem Vater,
einer Tochter und ihrer Mutter,
einer Schwiegertochter und ihrer Schwiegermutter.
Die engsten Verwandten eines Menschen werden dann zu seinen Feinden.
Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich,
ist es nicht wert, zu mir zu gehören.
Und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich,
ist es nicht wert, zu mir zu gehören.
Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir folgt,
ist es nicht wert, zu mir zu gehören.
Wer sein Leben erhalten will, wird es verlieren.
Aber wer sein Leben verliert, weil er es für mich einsetzt, wird es erhalten«

Jede Woche hat einen Dienstag.
Das Jahr ein halbes Hundert.
Das Leben hat viele Dienstage,
an denen man sein Leben
verlieren und
erhalten kann.

An diesem Dienstag
sitzt Leo im Zelt auf einem Hocker.
Vor ihm sitzt Aleschi auf einem anderen Hocker.
Und hält ihm seinen Fuß entgegen.
Leo versorgt die eiternde Wunde
und versucht, sich mit dem Jungen zu unterhalten.
Ihn abzulenken von den Schmerzen,
während er das Pflaster abreißt.
8 Jahre alt ist er vielleicht.
Und so viel hat er schon gesehen
auf seiner Flucht:
Wunden an Beinen und Köpfen.
Gliedmaßen ohne den dazugehörigen Menschen.
Vertrocknetes Leben.
Zerstörte Träume.
Den Tod hat er gesehen, gehört und gerochen.
Und an manchen Tagen auch geschmeckt
an seinen eigenen trockenen Lippen.
Aber jetzt ist er bei Leo.
Und Leo macht mit ihm Faxen,
verbindet seine Wunde,
füllt die Wasserflasche auf.
Und gibt ihm eine Packung
portioniertes Knäckebrot.
Aleschi lacht, als Leo Grimassen schneidet.
Leo lacht mit.
Wenn er sich umsieht,
hier im Lager auf Moria,  
vergeht ihm das Lachen.
Wunden an Beinen und Köpfen.
Menschen ohne Beine oder Arme.
Ausgemergelt und mit stumpfen Augen
und vertrockneten Seelen.
Leo kann helfen.
Ein bisschen Frieden auf Erden machen.
Ein bisschen nur.
Wasser und Brot teilen.
Und lachen.
Immer wieder schickt er WhatsApps nach Hause.
Heute ein Foto von sich – zusammen mit Aleschi,
der stolz seinen weißen Verband zeigt.
„Cool, dass du ein bisschen Frieden für den Jungen machst!“
schreibt Nele zurück.
Und: „Du siehst ein bisschen aus wie Jesus“

     Die Woche hat einen Dienstag.
     Das Jahr ein halbes Hundert.
     Das Leben hat viele Dienstage
     um andere zum Lachen zu bringen.
     Um Wunden zu verbinden und
     Brot zu teilen.

 An diesem Dienstag
kam die Nachricht aus dem Krankenhaus.
„Sie wird nicht mehr lange leben,
und sie will Sie unbedingt sehen.“
Der Kontakt war noch nie besonders gut
zwischen Inge und Gudrun.
Vieles wurde nie ausgesprochen.
Oder es lag ein scharfer Ton in der Luft.
„Niemals werden die klarkommen,
wenn du nicht konsequenter bist!“
Gudrun hatte die Worte ihrer Mutter noch im Ohr.
Wie ein Schwert trafen sie damals.
Wahrscheinlich auch heute,
wenn sie so drüber nachdenkt.
Obwohl aus beiden Kindern was geworden ist.
Sie ist stolz auf Nele und Leo,
die wissen, was sie können
und was ihnen wichtig ist.
Wahrscheinlich hat auch sie ihre Mutter
vor den Kopf gestoßen
mit Schwert-Worten.
Mit ihrer liberalen Vorstellung davon,
wie man Kinder erzieht.
Und mit ihrem Hang zu Freiheit und Demokratie.
Ihre Kinder kommen ganz nach ihr.
Leo kümmert sich um geflüchtete Kinder.
Nele will nach dem Abi Politik studieren.
„Damit die Welt ein bisschen besser wird“,
wie sie so schön sagt.
Inge findet nach wie vor, Jungs sollen Geld verdienen
und Mädels heiraten und Kinder kriegen.
Gudrun seuzt.
Sie wird ihre Mutter nicht mehr davon überzeugen,
dass diese Einstellung keine Hilfe ist.
Nicht für sie – und auch nicht für Nele und Leo.
„Ob es wohl die letzte Begegnung ist?“
Gudrun weiß nicht was sie hoffen soll
oder erwarten kann.
Und fährt ins Krankenhaus.

    Die Woche hat einen Dienstag.
    Das Jahr ein halbes Hundert.
    Das Leben hat viele Dienstage.
    Aber nicht mehr,
    wenn der Abschiedsschmerz 
    schon zu spüren ist.


An diesem Dienstag
sitzt Bernd auf dem Sofa.
Das Handy liegt neben ihm.
Eingeschaltet.
Es zeigt ein Foto von Leo
und einem Jungen,
mit weißem Verband am Bein
und Knäckebrot in der Hand.
Seit 7 Monaten ist sein Sohn dort.
In einem Lager.
Bei den Menschen, denen sowieso
nicht zu helfen ist.
Was ändert sich denn in der Welt,
wenn die jetzt alle zu uns kommen?
Es sind arme Menschen. Keine Frage.
Aber das sein Leo freiwillig dorthin geht,
erträgt er nicht.
Längst könnte er nach seinem Studium
gutes Geld verdienen.
Ein Häusle bauen.
Eine Familie gründen.
Aber für Leo ist es wichtiger, die Welt zu retten.
Bernd kann das nicht nachvollziehen.
Heute ist Dienstag
und sie werden bei der Musikverein-Probe
nach Leo fragen.
Ob er immer noch keinen Job hätte.
Und dann muss Bernd wieder
die Geschichte von der Weltreise erzählen.   
„Was musst ausgerechnet du einen auf Jesus
und Frieden auf Erden machen?“
ist die erste Chatnachricht,
die Leo nach Monaten von seinem Vater bekommt. 


     Die Woche hat einen Dienstag. 
     Das Jahr ein halbes Hundert.
     Das Leben hat viele Dienstage.
     Dienstags ist Probe im Musikerheim.
     Und Kinder wie Leo sind manchen Eltern
     unangenehm.



An diesem Dienstag
geht Nele joggen.
Nein. Nele rennt.
Das hilft ihr, den Kopf frei zu bekommen.
„Was musst ausgerechnet du einen auf Jesus
und Frieden auf Erden machen?“
Auf dem Weg zurück liest sie Bernds Nachricht
im Familienchat.
„Mensch Papa! Wenn schon nicht Frieden in der Familie,
dann wenigstens Frieden auf Erden!“
antwortet Nele.
Mit einem Wut-Smiley dahinter.
Leo antwortet mit „Daumen hoch“
und einem Heul-Smiley.
Zu Hause angelt Nele ihre Konfi-Bibel vom Regal
und schlägt sie auf.
Sie liest vom Frieden. Vom Schwert. Von Familie.
Von Vater, Mutter, Sohn und Tochter.
Und davon,
dass der Familienfrieden
gewaltig schief hängen kann.
„Ein bisschen ist das wie bei uns“, denkt sie laut.
„Eigentlich ist es kein Wunder, dass alles ist, wie es ist." 

    Die Woche hat einen Dienstag.
    Das Jahr ein halbes Hundert.
    Das Leben hat viele Dienstage.
    Und Familie
    ist auch am Dienstag schwierig.

An diesem Dienstag
sitzt Gudrun am Bett.
Ihre Mutter atmet schwer. 
Das rote Seidentuch liegt neben ihrer Wange.
Die Lippen sind trocken und
Gudrun befeuchtet sie mit einem nassen Waschlappen.
Leise klopft es an der Tür.
Frau Kolb bringt Brot und Wein in einem Korb.
So wie Inge sich das am Morgen
mit wenigen Worten gewünscht hat.
Gudrun räumt ihren Platz an der Bettkannte
und will sich auf den Stuhl in der Ecke setzen.
„Nicht doch! Brot und Wein ist für uns alle.“
Mit einladender Geste
holt Frau Kolb Gudrun zurück.
An ihren Platz an der Bettkante.
Weiches Brot findet sie in ihrer Hand wieder
und in der Hand ihrer Mutter.
Ein paar Krümel fallen auf das rote Seidentuch. 
Schweigend essen sie Brot,
als Gudrun leise, aber deutlich, hört:
„Friede mit dir.“ 
Aus dem Mund ihrer Mutter
klingen diese Worte fremd.
„Friede mit dir“
Und ein Seufzer.
Für Wein ist keine Zeit mehr.
Das Gesicht fällt zur Seite ins rote Seidentuch.
Und zu den Brotkrümeln.
Gudruns Welt steht für einen Moment still.

    Die Woche hat einen Dienstag.
    Das Jahr ein halbes Hundert.
    Das Leben hat viele Dienstage.
    Und der Tod auch.

 

An diesem Dienstag
ist Bernd im Vereinsheim.
„Hast du was von Leo gehört?“
„Ja!“, murmelt Bernd.
„Er bleibt wohl länger dort.“
„Wo?“
„Da, wo er gebraucht wird.“
Nele traut ihren Augen nicht,
als sie spät am Abend im Chat liest:
„Leo, ich bin stolz auf dich! Gruß, Papa“
„Wir sehen uns bald“ schreibt Leo zurück, 
und: „Zu Omas Beerdigung bin ich da.“
Gudrun liest auch mit.
Ein paar Tränen rollen über ihr Gesicht.
Sie denkt an Inge.
Und daran, wie schwierig manches war.
Für alle.
Dass auch sie manchmal nur
Schwert-Worte übrig hatte.
Die Kirchturmuhr schlägt vier Mal
und dann elf Mal.
Nebel zieht auf.
Der Mond scheint durchs Fenster
und draußen ruft ein Kauz in die Nacht.


    Die Woche hat einen Dienstag.
    Das Jahr ein halbes Hundert.
    Das Leben hat viele Dienstage.
    Aber an diesem Dienstag
    ist Frieden geworden.

Amen.


Lied:  Wo Menschen sich vergessen, die Wege verlassen (NL+ 93,1-3)




Leben gibt es geschenkt!

Erntedank-Gottesdienst im Seniorenzentrum Taläcker 

am 28. September 2021


Ein großer Schrank, am Straßenrand.
Er ist etwa so hoch wie ich.
Und er hat weit geöffnete Türen nach beiden Seiten.
In seinem Inneren sind zwei Regalbretter.
Auf diesen Brettern liegt, was im Garten wächst:
Kartoffeln, Mini-Äpfel und Karotten in Tüten.
Kohlrabi, so groß wie Fußbälle
und Zucchini in allen Größen.
Erbsen und Bohnen, abgefüllt in Pappschalen.
In Einmachgläsern stehen riesige Petersilienbündel -
ich nenne sie immer „Küchensträuße“.
Und ein paar handgezogene Grünlilienstecklinge
in Joghurtbechern stehen da auch.
Unten im Regal liegt Brennholz für den Kaminofen.
Vor den geöffneten Türen
liegen Kürbisse in gelb und grün.
Da steht ein Eimer mit Grünkohl.
Und weil da ein Korb mit
roten und gelben Zwiebeln steht,
bleibt die Tür auch bei Wind offenstehen.
Zwischen all dem Gemüse
steht ein leeres Marmeladenglas
mit rostigem Schraubdeckel.
Da hinein legt man das Geld.
So viel, wie in krakeliger Schrift
auf den kleinen Klebeetiketten steht.
Oder auf den vergilbten Preislisten,
die mit rostigen Reißnägeln an die Tür gepinnt sind.
10 Kronen für eine Tüte Karotten.
und 25 Kronen für eine Tüte Kartoffeln.
Wieviel in den Tüten drin ist, weiß man nicht so genau.
Das ist auch unterschiedlich und nicht so wichtig.
Der Kilopreis variiert,
der Tütenpreis steht fest.
Manchmal verirrt sich auch ein Stein in den Kartoffeln.
Das ist in dieser Gegend nicht weiter schlimm.  
Dort weiß man:
Kartoffeln und Steine
sehen sich manchmal zum Verwechseln ähnlich.
Seither nennen wir die Kartoffeln „Steingemüse“.

Ich sage immer: Das ist mein Lieblings-Supermarkt.
Dort am Straßenrand,
in einem kleinen Dorf in Dänemark.
Jeder Besuch ist eine Überraschung.
Denn ich weiß nie, was es gibt.
Wieviel in den Tüten ist.
Ob ein Stein drin ist oder nicht.
Sicher ist nur: Es gibt immer Kartoffeln.
Die Box mit frischen Eiern ist immer leer.
Und es gibt immer irgendein Gemüse.
Gewachsen im Garte,
der zu diesem Schrank gehört.
Und zu diesem Haus.
In dem Menschen leben,
die Gemüse anbauen.
Überraschungsgemüse.
Täglich neu und frisch geerntet.

Jahr um Jahr
und Tag um Tag  
steht dieser Schrank am Straßenrand.
Ehrlich gesagt kann ich mich nicht daran erinnern,
wann er mir zum ersten Mal auffiel.
Wann ich zum ersten Mal
dort angehalten und gestaunt habe
über diese Mengen an Petersilie und Kartoffeln.
Und Rote Rüben in Herzform. 
Nie habe ich diesen Schrank leer angetroffen.
Oder gar verschlossen.
Dort am Straßenrand.
In meiner kleinen Welt gibt es ihn
schon immer.
Jahr um Jahr.  
Die Welt dreht sich weiter,
aber dieser Schrank steht da
mit seiner ganzen Fülle.

Ganz am Anfang der Welt gab Gott ein Versprechen.
Erntedank erinnert mich daran.
Und dieser Schrank in Henneby erinnert mich daran.
Er erinnert mich an das Versprechen Gottes.

Solange die Erde sich dreht, wird Leben sein:
Immer wieder wird kommen
Saat und Ernte,
Frost und Hitze,
Sommer und Winter,
Tag und Nacht. 
(1. Mose 8,22)

Der Schrank ist gefüllt.
Und mein Leben auch.
Das Leben geht weiter.
Wir Menschen gehen weiter.
Gott geht weiter.

Deshalb heißt Erntedank auch:
Für mich geht es weiter.
Für mich ist gesorgt. 

Gott sagt:
ich geb dir die Welt.
Einfach so.
Sie dreht sich.
Für dich und mich.
Und für uns alle.

Dafür muss ich auch nichts
in ein Marmeladenglas legen
mit rostigem Schraubdeckel. 

Leben gibt es geschenkt.  
Amen.