Montag, 7. Juni 2021

Am Morgen

 


(Bildquelle: Pixabay)

Lass mich am Morgen hören deine Gnade, denn ich hoffe auf dich. Psalm 143,8

Am Morgen, noch vor Tage, stand Jesus auf und ging hinaus. Und er ging an eine einsame Stätte und betete dort. Markus 1,35

Zwei Bibelzitate kommen ganz unterschiedlich daher.
Aus unterschiedlichen Zeiten.
Aber sie haben eine Zeit gemeinsam:
Am Morgen.

Am Morgen, also – jetzt – ist gemeint.
Bei Jesus vielleicht noch ein bisschen früher, als wir heute.
Da wird präzisiert: vor Tage.
Ehe das Tagwerk losgeht, die Arbeit beginnt,
etwas anderes Priorität hat.
Es ist die Zeit davor.
Am Morgen ist vor der Arbeit auf dem Feld und im Weinberg.
Am Morgen ist vor dem Flicken der Netze,
vor dem Anheizen des Feuers und vor dem Schärfern der Messer.
Vor dem Wecken der Kinder.
Vor dem Rundgang durch die Stadt und dem Bestücken des Marktstandes.
Am Morgen ist vor dem Weg zum Zug,
vor der Sitzung, der Schule, dem Gespräch im Büro.
Am Morgen ist vor dem Einkauf im Supermarkt,
der dringenden E-Mail und dem Zahnarzttermin.
Am Morgen ist vor der Diskussion mit der Partner*in
und der Reparatur des kaputten Rollladens.
Am Morgen ist vor der Englisch-Prüfung,
vor dem Termin in der Autowerkstatt,
vor der Doodle-Umfrage für die nächste Sitzung,
vor der Pizzabestellung für den Klausurtag,
vor der Beerdigungspredigt und vor dem Taufformular.
Am Morgen ist die Zeit vor allem Anderen.

Am Morgen ist aber auch die Zeit danach.
Die Zeit nach dem erholsamen Steinschlaf.
Dem Träumen von dem was war und was sein soll.
Den durchwachten Sommernächten mit Wein und Geschichten und Freunden,
die niemals enden mögen und uns ins Morgen tragen – und ins Übermorgen auch.

Am Morgen ist aber auch die Zeit nach der Nacht.
Nach dem Fürchten im Dunklen
und vor den Monstern unter dem Bett.
Nach den Ängsten und den Schmerzen,
die Minute um Minute Schlaf rauben.
Es ist die Zeit nach der Ungewissheit,
weil bis zum ersten Sonnenstrahl die Uhren
langsam gehen und der Kummer in der Seele ohrenbetäubend schreit.
Es ist die Zeit nach dem Gefühl der Gefangenschaft
in der Einsamkeit der Nacht,
in der niemand da ist, der eine Hand hält.

Am Morgen ist die Zeit des HeuteNeuAnfangens,
nachdem das Gestern vorbei ist.
Abgeschlossen. Beendet.
Der Tag davor ist vorbei.
Unwiederbringlich zu Ende.
Am Morgen beginnt das Leben
nach der Nacht und dem Tod,
am Morgen ist die tägliche Auferstehung.
Im Kleinen.
Ostern für alle.

Am Morgen ist neue Gnade Gottes.
Ist beten und hören.
Ist Antwort bekommen.
Ist die Chance des neuen Anfang und
die Möglichkeit, etwas anders zu machen als gestern.
Etwas anders oder etwas anderes zu sagen.
Anders zu sein.
Anders zu leben.
Anders Prioritäten zu setzen.
Die Welt anders zu sehen.

„Ich habe darüber geschlafen“ sagt man.
Meistens weiß dann jemand, was jetzt dran ist.
Und oft ist es etwas anderes als gestern.
Etwas Neues.

Der neue Morgen ist täglich ein leeres Blatt Papier,
um neu anzufangen.
Ich kann es selbst bemalen oder beschreiben,
mit Leben füllen.
Das Papier bleibt nicht lange leer.
Ganz sicher nicht.
Es füllt sich von alleine mit dem,
was uns tagsüber begegnet
und was wir vom Vortag mitschleppen.

Ich kann es aber auch machen wie Jesus
oder der Psalmbeter.
Ich kann hoffend und fragend und betend neu anfangen.
Auferstehen.
Täglich.
Gott das leere Papier hinhalten.
Manchmal gelingt es.
Dann entwickelt sich Neues und Überraschendes.

Vielleicht denke neu nach.
Was sage ich heute zu globalen Themen?
Impfen, digitaler Wandel, Corona, Bildungsverlierer*innen,
die AfD und Brandanschläge auf Synagogen,
zur Landtagswahl in Sachsen-Anhalt,
zu Annalena Baerbock
und zu Rettungsschiffen im Mittelmeer?

Der Morgen lässt mich neu überlegen:
Wie reagiere ich heute auf die schlechten Laune
meines Mitbewohners?
Wie stelle ich mich heute zur Meinung meiner Nebensitzerin
und was sage ich heute
zur zerrissenen Punk-Hose meiner Tochter?
Wen rufe ich heute an, „nur“ für ein gutes Wort
und wo muss deshalb ein Termin anders gelegt werden?
Wo werde ich heute gebraucht und wo bin ich entbehrlich?
Was ist heute die Aufgabe, die nur ich tun kann?

„Am Morgen“ ist ist eine Zäsur.
Sie ist da – ganz natürlich.
Nehme ich sie wahr?

Amen.


All Morgen ist ganz frisch und neu
des Herren Gnad und große Treu;
sie hat kein End den langen Tag,
drauf jeder sich verlassen mag.

Treib aus, o Licht, all Finsternis,
behüt uns, Herr, vor Ärgernis,
vor Blindheit und vor aller Schand
und reich uns Tag und Nacht dein Hand,

zu wandeln als am lichten Tag,
damit, was immer sich zutrag,
wir stehn im Glauben bis ans End
und bleiben von dir ungetrennt.

(Johannes Zwick, EG 440)

Das walte Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist. Amen!
Ich danke dir, mein himmlischer Vater,
durch Jesus Christus, deinen lieben Sohn,
dass du mich diese Nacht vor allem Schaden und Gefahr behütet hast,
und bitte dich,
du wollest mich diesen Tag auch behüten vor Sünden und allem Übel,
dass dir all mein Tun und Leben gefalle.
Denn ich befehle mich, meinen Leib und Seele und alles in deine Hände.
Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde.
Amen.

(Luthers Morgensegen)