Samstag, 27. April 2024

Am Meer stehen und singen: Gottes Geheimrezept in apokalyptischen Zeiten

Gottesdienst zum Sonntag Kantate
am 28.04.2024 in der
Jakobskirche Bodelshofen 



Offenbarung 15,2-4

Ich sah, wie sich ein gläsernes Meer mit Feuer vermengte, und die den Sieg behalten hatten über das Tier und sein Bild und über die Zahl seines Namens, die standen an dem gläsernen Meer und hatten Gottes Harfen und sangen das Lied des Mose, des Knechtes Gottes, und das Lied des Lammes: Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, allmächtiger Gott! Gerecht und wahrhaftig sind deine Wege, du König der Völker. Wer sollte dich, Herr, nicht fürchten und deinen Namen nicht preisen? Denn du allein bist heilig! Ja, alle Völker werden kommen und anbeten vor dir, denn deine Urteile sind offenbar geworden.

 

I.                    Am Meer

Am Meer stehen.
Und erst mal schauen.
Schauen auf die Wellen.
Auf die Bewegungen des Wassers.
Die Gischt.
Die Möwe, die eintaucht und das Schiff am Horizont.
Das Bild in sich aufnehmen von Weite und
die Größe der Welt wirken lassen.
Wasser und Himmel voneinander unterscheiden.
Unendlichkeit spüren.
Das Gefühl haben, dass alles gut ist.
              Sie standen an dem gläsernen Meer
              und hatten Gottes Harfen
              und sangen das Lied des Mose,
              des Knechtes Gottes, und das Lied des Lammes:  
              Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr,  
              allmächtiger Gott!

Am Meer stehen
und staunen.
Über diesen Ozean,
der voller Leben ist und voller Geschichten.
Geschichten, die das Leben schrieb.
Die Guten.
Mit dem Sonnenuntergang und
dem Lavendelduft.
Und Wärme in der Seele
beim Gedanken an einen Menschen.

Aber auch andere Geschichten.
Auch Geschichten, die das Leben schrieb.
Die Schmerzvollen.  
Mit Donnergrollen und blutiger Nase.
Menschen, die mir schaden.
Die mich als Verliererin sehen wollen.
Und wenn ich daran denke,
ist es in mir kalt und starr.

Geschichten,
die das Leben schrieb,
tummeln sich in diesem Meer.
Und ich stehe und schaue auf mein Leben.
Und meine Geschichten.
Ich stehe davor und staune.
Und ich spüre:
Wenn ich am Meer stehe, ist alles gut.
              Ich sah, wie sich ein gläsernes Meer
              mit Feuer vermengte,
              und die den Sieg behalten hatten,
              die standen an dem gläsernen Meer
              und hatten Gottes Harfen
              und sangen das Lied des Mose.

 

II.                  Vom Ende her betrachtet

„Du musst es vom Ende her betrachten,
dann ergibt alles einen Sinn.“

Ein gut gemeinter Rat in schwierigen Zeiten.
„Du musst alles vom Ende her betrachten –
wie bei einem Drehbuch, das du schreiben willst.“

Man könnte meinen:
Hauptsache das Ende steht fest – der Rest ergibt sich.
Und es muss ein gutes Ende sein.

Auch wenn der Rest der Geschichte erst entsteht:
wie es ausgeht, ist gewiss.
Bis dahin: Drama, Babe.
Etwas von allem ist drin in diesem Leben.
Liebe, die ganz Große. Und der erste Kuss.
Scheitern, Versagen.
Die Lüge, die alles kaputt macht.
Und der unendliche Schmerz auch.
Und dann fügt sich alles auf wundersame Weise
doch wieder zusammen zu einem Leben.
Zu DEINEM Leben.
Und das alles erlebst du,
während du weißt, wie das Ende ausgeht.
Dieses letzte rauschende Finale,
nach dem im Kino alle sagen:
„Boah, war das schön!“
Das Finale, in dem am Ende alle glücklich sind.
In dem es kein Leid mehr gibt,
keine Tränen und keinen Schmerz.
Das Finale, in dem alles ist, wie es sein soll.
Und Gott in der Hauptrolle.
Und du auch.

 

III.                Da ist Musik drin

Vom Ende her betrachtet
ist Musik drin
im Meer des Lebens.
Immer wieder sind da die alten Lieder,
die schon die Vorfahren sangen.
Und wir bis heute singen.
Lieder, die vertraut sind aus Kindertagen
und aus den Erzählungen der Alten.

              Das Lied des Mose
und das meines Großvaters.
Und das von Claudia,
aus meinem Kindergottesdienst vor 40 Jahren.
Du meine Seele singe,
Wohlauf und singe schön!
              Groß und wunderbar sind deine Werke,
              Herr, allmächtiger Gott!
Meine Hoffnung und meine Freude,
meine Stärke, mein Licht,
              gerecht und wahrhaftig sind deine Wege,
              du König der Völker.

Auf Seele, Gott zu loben,
there is none like you!
Ich sing dir mein Lied,
in dir klingt mein Leben,
              denn du allein bist heilig!
Weil er die kleinen Dinge liebt,
weiß ich er liebt auch mich.
              Wer sollte dich, Herr, nicht fürchten
              und deinen Namen nicht preisen?
              Ja, alle Völker werden kommen und anbeten vor    
              dir, denn deine Urteile sind offenbar geworden.

Musik im Meer des Lebens.
Jahrtausendealt und gleichzeitig jünger als ich.
Worte und Melodien zum Leben und zum Sterben. 
Worte der Gewissheit,
dass am Ende alles gut wird.
Und dass vom Ende her betrachtet,
doch alles einen Sinn ergibt.
Eingesungen in mein Herz,
in unsere Herzen
und ins Meer des Lebens.

 

IV.               Apocalypse now

Aber noch ist nicht das Ende.
Noch stehe ich nicht am Meer
und kann alles mit Abstand und
vom Ende her betrachten.
Noch lebe ich
im stürmischen Meer des Lebens.
Bin mal Welle und mal Wind.
Mal ertrinkend im Meer und
mal an den Strand gespült.  

Noch ist alles da,
was mich zweifeln lässt an der Idee,
dass die Sache mit dem großen Finale
und dem guten Ende funktioniert.

Noch sehe ich das Elend der Vielen,
die ertrinken im Meer
auf ihrer Reise in ein vermeintlich sicheres Europa.
Und höre das Schluchzen der Mutter,
die am Leben ist
und im Lager um ihr totes Kind weint,
das nie wieder bei ihr sein wird.
Ich erschrecke über die Berichterstattung
zur Asylpolitik in unserem Land
und ich lese die zynischen Urteile
in den Kommentarspalten der sozialen Medien.

Noch spüre ich die Wut und den Schmerz derer,
die durch ihr Anderssein
ausgegrenzt und in der Öffentlichkeit
entwürdigt werden.
Tabitha, die früher mal Tobias hieß.
Und deren Nachbar sie immer noch „aus Prinzip“
mit ihrem alten Namen anredet.  
Serdar und Marek, die sich erst jetzt trauen,
ihre Freunde zu einem Fest einzuladen
- anlässlich ihrer Hochzeit vor 5 Jahren.
Svenja, die im Rollstuhl sitzt und eine Arbeit sucht.
Dutzende Bewerbungen hat sie geschrieben.
Offenbar kann sich niemand vorstellen,
dass eine Frau mit Behinderung
einen normalen Arbeitsalltag im Büro
bewältigen kann.

Noch spüre ich meine eigenen Grenzen.
Meine Ungeduld, weil mir vieles zu langsam geht.
Den Ärger über meine Kirche,
die sich viel zu zaghaft verändert -
dort, wo Veränderung gut wäre.
Und alles übers Knie bricht -
dort, wo Besonnenheit nötig wäre.
Ich höre mein eigenes, inneres Grummeln
und die Stimme, die mir sagt:
„Du schaffst das nicht.“
„Es interessiert eh keinen, was du denkst.“
„Allein kannst du sowieso nichts ändern.“

Noch schwimme ich in diesem Meer,
bin den Wellen ausgeliefert und frage mich:
Wann kommt dieses feudale Ende,
von dem alle sagen:
„Am Ende wird alles gut –
und wenn es noch nicht gut ist,
dann ist es noch nicht das Ende?“

V.                 Hoffnungszeichen

Bis es soweit ist,
lebe ich von Hoffnungsbildern.
Von einem möchte ich erzählen,
das wir als Gemeinde selbst mit erschaffen haben.
Letzte Woche schrieb Katja Buck,
Journalistin und Religionswissenschaftlerin
aus Tübingen, in ihrer Facebook-Timeline:
       „Das verrückteste Projekt der letzten Jahre hat     
       gestern einen wunderbaren Abschluss gefunden.
       Die 17-Register-Orgel aus Wendlingen am Neckar
       ist nach einem spektakulären Umzug und
       Wiederaufbau in der Christuskirche der Theodor-
       Schneller-Schule in Amman mit einem geistlichen
       Konzert eingeweiht worden. Klaus Schulten an der
       Orgel hatte mit den Geistlichen vor Ort ein
       Programm zum Thema Friedenssehnsucht
       zusammengestellt. Und wer sich jetzt fragt, ob es
       eine Orgel in Jordanien denn überhaupt baucht
       und ob das Geld für den Orgelumzug denn nicht
       auch anders hätte angelegt werden können, dem
       sei gesagt: die Orgel ist Ausdruck der Sehnsucht
       nach dem Erhabenen. Und gerade deswegen ist die
       Orgel hier so wichtig.“

Dort in Jordanien,
wo sich Menschen bekriegen,
wo Frieden ein Fremdwort ist
und Versöhnung unmöglich scheint,
werden Hoffnungslieder gesungen.
Begleitet von „unserer“ Orgel.
Totgesagt war sie.
Niemand wollte sie haben.
Dem Zerfall, dem Holzwurm
und den Mäusen ausgeliefert
lag sie in der TVU-Halle.
Und als sich Menschen trafen,
die einen, die um die Orgel wussten
und die anderen,
die eine Orgel suchten,
da war alles klar.
Vom Ende her gesehen,
hat alles so kommen müssen.
Aber bis dahin wusste niemand,
wie es mit dieser, unserer, Orgel
zu einem guten Ende kommen sollte.
Nun ist sie in Amman in der Christuskirche,
und so trägt dort dazu bei,
dass Friedenslieder gesungen werden:         
              Die den Sieg behalten hatten, die standen an dem  
              gläsernen Meer und hatten Gottes Orgel und  
              sangen Friedenslieder im nahen Osten:
              Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr,   
              allmächtiger Gott!


VI.               Das Ende

Am Ende werden wir am Meer stehen.
Alle, die wir das Vertrauen nicht verloren
und die Hoffnung nicht aufgegeben haben.
Und mit uns werden die da sein,
die alles verloren glaubten
und von uns aufgegeben wurden -
aber nie von Gott.
Gemeinsam werden wir singen
              das Lied des Mose, des Knechtes Gottes, und das  
              Lied des Lammes:
              Groß und wunderbar sind deine Werke,
              Herr, allmächtiger Gott!

Bis es soweit ist,  
will ich sie weiter am Meer stehen und singen:
die Lieder, die von dem Ende erzählen,
an dem alles gut sein wird.
Die Lieder, die zum Leben helfen –
und zum Sterben auch.
Ich will diese Lieder jetzt schon singen
trotz allem, was ist.
Trotz meinem Schmerz
und meiner Wut,
meiner Hilflosigkeit und
meinen Selbstzweifeln.
Und ich bin gewiss:
Gott wird sie hören,
meine Lieder.
Jetzt
und am Ende
auch.
Amen