Sonntag, 5. September 2021

Urlaubsnotiz: Palermo, Oksbøl, Afghanistan und zurück.

 


Die dänische Westküste ist ein Sammelsurium deutscher Kriegsgeschichte.
Wer sich daran stört, sollte hier nicht Urlaub machen.
Ich mache hier Urlaub seit ich 7 Jahre alt bin.
Dieser Ort ist mir zur Heimat geworden.
Auch wenn es manchmal ist wie Geschichtsunterricht.
Zu Worten wie
„Atlantikwall“
„Minenräumung in Skallingen“
„Tirpitz“
„Büffelstellung“
„Vogelnest“
„Bunkerpferde, die keine Pferde sondern Maultiere sind“ und
„Dicke Berta“
können sogar kleine Kinder etwas sagen.
Nicht nur die dänischen – auch die Touristenkinder,
sofern der elterliche Horizont nicht
am Indoorspielplatz des Hvidbjergstrand-Campingplatzes endet.
(Kommt allerdings auch vor.)
Spätestens wenn man sich diesem Flecken Erde geocachend nähert,
wird man an diese Orte geführt,
an die man eigentlich nicht will, wenn die Seele Urlaub hat.
Aber in Bunkern lässt sich schön viel verstecken.
Und an irgendwelchen Mahn- und Denkmalen auch.
Teilweise unterlegt das dänische Militär diese Art Bildungsurlaub
mit täuschend echtem Originalsound.
Nebenan ist nämlich der Truppenübungsplatz.
Bombenabwurf- Übungen aus tieffliegenden Militärfliegern
und artellerieschießende Panzer im Vorgarten
gehören hier quasi zum Alltag.
Nur Blåvand- Ersttäter*innen reiben sich verwundert die Augen
 – und kommen nie wieder –
oder zucken gelassen mit den Schultern und gehen zur Tagesordnung über,
auch wenn das Geschirr im Schrank klirrt.
Wer hier sesshaft wird,
ist eher irritiert, wenn es nicht ständig rummst (wie zur Zeit),
freut sich aber, wenn die Panzerpiste offen ist und
von normalen Menschen in normalen Autos befahren werden darf (Ich. Heute.)

Soweit das Vorwort.

Nun also zu dem, was ich heute erlebt habt.
Auch nach achtunddrölfzig Urlauben hier in diesem Revier
gibt es Ecken, die man noch nicht gefunden hat.
Oder solche, die mich noch nicht gefunden haben.
Man hat schonmal davon gehört. Und weiß, dass es da ist.
Aber man war noch nie dort.
So der Soldaten- und Flüchtlingsfriedhof in Oksbøl .
Er liegt nicht an der Rennstrecke, sondern etwas abseits.
Man muss dahin wollen.
Und einmal abgesehen davon, dass dort ein Geocache lag,
der gehoben werden wollte,
war heute ein Tag,
an dem genau dieser Ort auf meinen inneren Plan gerufen wurde.
Es mag Zufall sein oder nicht,
dass der ZDF-Fernsehgottesdienst aus Palermo heute früh stattfand. (Klick)
Und die Sea-Eye 4 heute 29 Menschen,
davon 4 Babies und 2 hochschwangere Frauen,
an Land bringen konnte.
Es mag Zufall sein oder nicht,
dass ich ausgerechnet heute auf die Idee kam,
alleine loszuziehen
ohne quengelnde oder bellende Begleitung,
(was beides auf Friedhöfen grundsätzlich irgendwie lästig und unerwünscht ist).
Jedenfalls war ich in Oksbøl.
Und nach dem Kauf von SexintheBottle- Bier, Dild- Chips und Bio-Zucchini.
Und nach dem Palermo-Gottesdienst.
Und nach den guten Nachrichten von gestern und heute,
dass die Sea-Eye 4 retten und anlegen konnte,
entschied ich mich,
links abzubiegen,
dahin, wo ich in 36 Jahren noch nie abgebogen bin. 
Oder zumindest erinnere ich mich nicht daran.


Der Cache war schnell erledigt.   


Und so blieb Zeit für den Friedhof.
Die Gräber.
Eines am anderen.
1800 Stück.
1675 Geflüchtete.
125 Soldaten.
1800 Menschen.
1800 Geschichten.
1800 Familien, die trauerten.

Hier, in Oksbøl, wurden sie aufgenommen.
Deutsche.
Fliehend aus dem Osten.
Über das Meer.
Viele von ihnen kamen nie an.
Ertranken in der Ostsee.
Aber viele wurden gerettet.
Und an Land gebracht.
Dänemark war Palermo.
Palermo heute ist

das Dänemark von damals.

Was damals                                                            
das Flüchtlingslager in Oksbøl war
für die Deutschen,
ist heute Camp Moria für Menschen
aus Gambia, Syrien, Afghanistan.

50 Jahre danach:
Deutsche danken Dänemark.
Steht da auf dem Stein,
neben dem gepflanzten Ginkgo.
Das war 1997.

Heute, 74 Jahre danach: Frage ich mich,
warum wir in Deutschland überhaupt diskutieren,
ob man Menschen rettet oder nicht.

Ich frage mich, was schief läuft,
wenn mit zynischen Kommentaren reagiert wird
auf die Rettung von Menschen aus Seenot.

Ich frage mich, wie es dazu kommt,
dass wir Angst haben müssen, dass Parteien an die Macht kommen,
die das hier alles leugnen und als Vogelschiss abtun.

Ich lese von Anna Rutkowski aus Liewenberg,
deren Zwillinge auf der Flucht geboren wurde,
aber nicht überlebten.
Und denke an das Baby,
das letzte Woche
im Flugzeug bei der Flucht aus Afghanistan
geboren wurde.
Es lebt. Gott sei Dank!               

                                              

Ich lese von Erwin Drewes,
der die Flucht 1939 nicht überlebt hat,

weil das Vorpostenboot auf eine Seemine traf. 
Dänische Fischer bargen seinen Leichnam.
Und heute Nachmittag las ich
unter einem Facebook-Post von Sea-Eye von Hadeel, der schreibt:
„Ich brauche deine Hilfe.
Mein Bruder ist am Donnerstag, 27. August ertrunken,
als das Boot auf See kenterte.
Wir erhielten Nachricht von der libyschen Küstenwache,
dass du um Zeitpunkt des Unfalls Menschen gerettet hast.
Ich möchte sicher gehen, dass du Menschen gerettet hast oder nicht…“

Ich lese von Familie Büssow,
die 1945 ihren Hof in Puppendorf verlassen musste.
Über Oxhöft und die Halbinsel Hela gelangen sie nach Kopenhagen.
„Die Überfahrt war ein einziges Risiko,
überall lauert der Russe mit seinen Torpedo-Booten.“
Und ich denke an die vielen gehässigen Kommentare
zur Seenotrettung, die sagen:
„Wer ist schon so bescheuert
und riskiert sein Leben auf dem Mittelmeer?“

Heute geht es um das Leben von
Yaya, Alagie, Nadia, Buam, Esala, Bridu, Giada und Majid.
Auf den Grabsteinen in Oksbøl  stehen diese Namen:
Emilie, Wilhelm, Marta, Erna, Kurt, Friedemann, Helmut.
Geflüchtete.
Geliebte.
Menschen.
Damals
wie
Heute.

"Wir sind es alle wert, gerettet zu werden,

einfach, weil wir Menschen sind!" 

(HBS heute in Palermo)

Kyrie eleison!