Sonntag, 18. September 2022

"Vergib uns unsere Schuld..."

Predigt zum Film 

Three Billboards
Outside Ebbing, Missouri
am 18. September 2022 
im JohannesForum


I. Verwundet

Eine skurrile Begegnung im Krankenhaus.
zwei verletzte Männer in einem Zimmer.
Zufällig zugeteilt: Red Wilby und Jason Dixon.
Der eine liegt dort, weil er die umstrittenen Billboards an Mildred Hayes vermietete. Dafür wurde er von Officer Dixon voller Wut aus dem Fenster geworfen.
Und der andere wird dazu geschoben, weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war und Mildred Hayes Rache nicht mehr entgehen konnte:
Der Fluchtweg war für Jason Dixon versperrt und er musste sich aus dem brennenden Police Departement
mit einem Sprung durch die Flammen retten.

Es ist viel passiert,
bis die beiden sich im Krankenhaus begegnen.
Aber nun sind sie hier gelandet:
Verletzt. Verbrannt. Verwundet.
Verwundet an Leib und Seele.
Aber: man(n) kennt sich.
Man er-kennt sich.
Trotz aller Beulen und Nähte und Verbände.


II. Rückschau

Was bisher passiert ist:
Mildred Hayes Tochter wurde Opfer eines Gewaltverbrechens.
Weil sie sich von der Polizei im Stich gelassen fühlt, macht sich daran,
den Täter selbst ausfindig zu machen und die Tat zu sühnen.
Dazu sucht sie ihren eigenen Weg, um mit ihrer Geschichte
an die Öffentlichkeit zu gehen:
Sie mietet drei „Billboards“, Plakatwände am Straßenrand,
und bestückt sie mit Schriftzügen.

In großen schwarzen Buchstaben auf rotem Grund sind dort die Sätze zu lesen:
„Raped While Dying“ („Vergewaltigt, als sie im Sterben lag“)
„Still No Arrests?“ („Und noch keine Verhaftungen?“)
„How come, Chief Willoughby?“ („Wie kommt das, Chief Willoughby?“)
Ja, sie spricht den Chief Inspector namentlich an
und macht ihn persönlich dafür verantwortlich,
dass das Verbrechen an Angela Hayes bislang nicht aufgeklärt wurde.
Dieser müht sich, erklärt sich und tut, was er kann,
aber es ist hoffnungslos. Der Täter wird nicht gefunden.
Officer Jason Dixon soll Chief Willoughby dabei unterstützen, 
allerdings arbeitet der sich derweil an der afroamerikanischen Bevölkerung ab
und schikaniert diese, wo er kann.
Als Willoughby sich das Leben nimmt, weil er unheilbar an Krebs erkrankt ist
und seiner Familie sein Leiden ersparen will,
macht Dixon nicht nur Mildred Hayes für seinen Tod verantwortlich.
Auch Red Wilby, den Vermieter der Billboards, will er dafür zur Rechenschaft ziehen und er wirft ihn deshalb vor Wut aus dem Fenster.
Am Tag nach Willoughbys Tod wird ein neuer, schwarzer Polizeichef eingesetzt.
Eine seiner ersten Amtshandlungen ist die Entlassung von Jason Dixon.
Als die Werbetafeln angezündet werden,
hält Mildred Hayes zunächst Jason Dixon für den Verantwortlichen.
Sie beschließt deshalb, sich an der Polizei zu rächen.
Allerdings weiß sie nicht, dass sich Dixon sich trotz seiner Suspendierung an jenem Abend alleine in der dunklen Polizeiwache aufhält,
um einen Abschiedsbrief Willoughbys an ihn zu lesen.
Weil Mildred Hayes kein Menschenleben gefährden will,
ruft sie auf der Polizeiwache an, um sicherzustellen,
dass dort niemand mehr Dienst tut.
Dixon hörte das Telefon nicht. Er hörte Musik über Kopfhörer.
Mildred zündet ihre Molotovcocktails.
Jason Dixon bemerkt das Feuer daher erst, als die Polizeiwache bereits in Flammen steht und die Fluchtwege versperrt sind.
Mit einem kühnen Sprung rettet er sein Leben – und die Akte Angela Hayes.

III. Fragen

Was würde ich tun, wenn es um meine Tochter ginge?
Was würde ich tun, wenn es mein Freund wäre,
der sich das Leben nimmt und ich den Verdacht hätte,
jemand anderes hätte ihn dazu genötigt?
Was würde ich tun, wenn ich dabei zusehen müsste,
dass Ungerechtigkeit einfach hingenommen wird?

Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht.
Eigentlich ist doch klar:
Rache macht Tote nicht wieder lebendig.
Und eigentlich ist auch klar:
Einen Täter oder eine Täterin zur Rechenschaft zu ziehen ist Sache der Polizei.
Und auch um Polizeiversagen an die Öffentlichkeit zu bringen,
gibt es rechtsstaatliche Mittel und Wege.
Selbstjustiz ist in keinem Fall vorgesehen.
Eigentlich ist das alles klar.
Und doch.
Und doch sage ich: ich weiß es nicht.
Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn es hart auf hart kommt.
Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn mein Leben so richtig versaut wird.
Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn ich so richtig fiese Rachegedanken hätte.
Ich weiß nicht, was ich tun würde wenn ich an die Grenze dessen kommen würde, was ich, was mein Herz und meine Seele, ertragen kann.

IV. Grenzerfahrungen


Menschliche Grenzen sind sehr unterschiedlich.
Und wie Menschen mit Unterträglichkeiten umgehen,
ist auch sehr unterschiedlich.

Nicht immer sind es die ganz großen Katastrophen,
die uns an den Rand bringen.
Manchmal sind es Kleinigkeiten, die das Fass zum Überlaufen bringen.
Manchmal noch nicht einmal Taten, sondern nur ein falsches Wort,
das den Impuls entfacht, für Gerechtigkeit einzustehen zu müssen.
Und manch einer schafft es auch, mit einer ganz großen Katastrophe zu leben,
ohne sich dafür zu rächen zu wollen.
Im Film wird das eindrücklich deutlich:
Sowohl Mildreds Ex-Mann und der Vater von Angela,
als auch deren Bruder Robbie wollen die Angelegenheit auf sich beruhen lassen. Mildred Hayes nicht.
Sie will alles dafür tun, damit die Tat gesühnt wird.
Ich weiß nicht, ob das richtig ist so:
Ihre Tochter kommt dadurch nicht wieder zurück.
Ich weiß nicht, ob es gerecht wäre, wenn sie den Täter erwischt -
und was wäre schon ausgleichende Gerechtigkeit
für die Vergewaltigung und den Tod ihrer Tochter?
Auch das vermag ich nicht zu beurteilen
und bleibt, zum Glück, auch im Film offen.

Was ich allerdings weiß:
diese Gedanken sind zutiefst menschlich.
Und sie stehen sogar in der Bibel:


V. Aus Psalm 58

Haltet ihr euch wirklich an die Wahrheit,
wenn ihr euer Urteil fällt, ihr Mächtigen?
Seid ihr ehrlich gegenüber den Menschen,
wenn ihr Gericht haltet?
Nein! Mit Absicht begeht ihr Verbrechen!
Eine Spur der Gewalt zieht ihr durchs Land.
Gott, zerschlag ihnen doch die Zähne im Mund!
Zerbrich das Gebiss dieser jungen Löwen, Herr!
Wie Wasser, das verrinnt, sollen sie verschwinden.
Wenn einer seinen Pfeil auf sie richtet,
sinken sie auch schon zu Boden.
Dann wird der Gerechte sich freuen.
Denn er schaut zu, wenn Gott Vergeltung übt.
Er badet seine Füße im Blut des Frevlers.
Und die Menschen werden sagen:
»Ja, es lohnt sich, Gerechtigkeit zu üben!
Ja, es gibt einen Gott,
der jeden im Land zur Rechenschaft zieht!«

VI. Vergeltungssehnsucht

Es sind harte Worte, die da einer betet.
Die Sehnsucht nach Vergeltung ist groß.
Im Vergleich zum Film gibt es aber einen entscheidenden Unterschied:
Der Psalmbeter richtet seine Wut und seinen Zorn an Gott.
„Gott, zerschlag ihm doch die Zähne im Mund.“
Es könnte ein Gebet von Jason Dixon sein
in seiner Wut auf Rob Welby, den er allerdings selbst vermöbelt
und zum Fenster hinausbefördert.

„Ja, es gibt einen Gott, der jeden im Land zur Rechenschaft zieht –
auch den Mörder meiner Tochter!“
könnte ein Gebet von Mildred Hayes sein –
ehe sie Plakate aufstellt oder Molotovcocktails zündet.
Im Lauf des Films wird eines immer wieder bewusst:
wer versucht, Gerechtigkeit herzustellen wird dabei auch ungerecht.
Wer sich rächt, und sei es noch so berechtigt,
wird gleichzeitig schuldig.
Nicht umsonst heißt es im Vater Unser:
„Vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“
Schuld und Vergebung ist immer ein Wechselspiel
und nie eine Einbahnstraße.

Lernen können wir hier vom Psalmbeter.
Er richtet seine Wut an Gott
und nicht direkt gegen Menschen.
Er überlässt es Gott, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Trotzdem nimmt er kein Blatt vor den Mund.
Wut und Hass, die sich direkt gegen Menschen richten,
erzeugen keine Versöhnung, sondern genau dasselbe:
Wut und Hass.
Vermutlich meint das auch Officer Willoughby
mit seinen Worten im Abschiedsbrief an Jason Dixon.
Dort steht:
„Ich weiß, dass du zu viel Wut in dir hast.
Solange du so viel Hass in die rumträgst, wirst du niemals das werden,
wovon ich weiß, dass du es gerne werden würdest: ein Detective.
Weißt du, was du brauchst, um ein Detective zu werden?
(Und ich weißt, du zuckst jetzt zusammen, wenn ich das sage)
Was man braucht, um ein Detective zu werden, ist Liebe.“

Ob es diese Worte waren, die bei Dixon eine Veränderung in Gang brachten?
Wir können es nur vermuten.
Aber in diese Filmszene, die wir vorhin gesehen haben,
könnte man so etwas wie Versöhnung hineininterpretieren.
Dixons „Es tut mir leid“ wird von Red Welby wortlos beantwortet:
er bringt ihm ein Glas Orangensaft. Mit Strohhalm.
Nimm und trink. Ich schlage nicht zurück.

VII. Finale

Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus
macht es sich Jason Dixon zur Aufgabe, den Täter für Mildred Hayes zu finden.
Eine zufällige Bar-Begegnung lässt hoffen, den Mörder gefunden zu haben.
Um an die DNA zu kommen, inszeniert er sogar eine üble Schlägerei.
Trotzdem kann der vermeintliche Täter nicht überführt werden.
Zusammen mit Mildred Hayes macht er sich am Ende des Films
dennoch auf den Weg nach Idaho – mit der Flinte im Kofferraum.
Mildred gesteht ihm unterwegs, die Polizeiwache angezündet zu haben.
„Wer sonst, zum Teufel? War doch klar!“
ist Dixons knappe, wie versöhnliche Antwort.

Und dann kommen die Zweifel.
Zweifel daran, ob es richtig ist, den Kerl um die Ecke zu bringen.
Und die Erkenntnis:
„Das können wir unterwegs ja immer noch entscheiden.“
Wie sie sich letztendlich entschieden haben, lässt der Film offen.
Wichtig erscheint mir aber an der Stelle:
Es ist eine Entscheidung.
Es ist eine Entscheidung, ob man die Dinge selbst in die Hand nimmt -
oder ob die Verantwortung abgegeben wird an die richtigen Stellen.
Und es ist letztlich eine Entscheidung und kein Zufall,
ob die Wut gewähren darf –
oder die Liebe eine Chance bekommt.
Amen.