Mittwoch, 27. März 2024

überMUT


überMUT
"Und wenn ich mit dir sterben würde..."
Passionsandacht 
in der Eusebiuskirche 
am 27. März 2024



Petrus, alter Freund,
heute stehe ich beim Feuer,
wie Du damals in jener Nacht,
als der Hahn krähte. 

Und ich bin in Gedanken bei dir.
Bei dir - damals in diesen seltsamen Tagen,
als es eng wurde für Jesus.
Und um Jesus herum.
Und du hautnah dabei.

Petrus, heute stehe ich beim Feuer,
bin in Gedanken bei dir und wünschte mir,
es würden Raum und Zeit verschwimmen.
Du und ich könnten dann zusammen am Feuer sein.
Sehen, hören, riechen, was um uns ist
und uns gemeinsam erinnern,
was geschehen war.
Du würdest mir die alte Geschichte erzählen.  
Die Geschichte von der Nacht, in der du gebangt
und gehofft hattest
auf den nächsten Morgen.
Gehofft, dass es gut ausgeht.
Mit Jesus und mit dir.
Mit euren Freunden.
Und mit euch allen gemeinsam.
 
Ach Petrus,
könnten wir doch gemeinsam beim Feuer stehen
und uns wärmen.
Und ich ein bisschen mehr sein, wie du.
Ein bisschen entschlossener und ein bisschen tatkräftiger.
Ein bisschen begeisterter, körperlich fitter, motivierter und
insgesamt mutiger.

Ach Petrus,
könnten wir doch gemeinsam beim Feuer stehen,
uns wärmen
und ich ein bisschen von dir lernen.
Auch, wie man Netze flickt und
den einen Fisch
vom anderen unterscheidet
Aber vor allem, wie man Entscheidungen trifft.
Einfach mal kurz entschlossen
sein altes Leben aufgibt.
Alles stehen und liegen lässt 
und mit Jesus mitgeht.

Ob ich es getan hätte?
Ich weiß es nicht.

Aber sag mal, Petrus,
würdest du das eigentlich wieder so machen?
Dein Schiff. Deine Netze. Deine Kundschaft.
Deine Familie.
Würdest du das alles noch einmal verlassen?
Manchmal fällt es mir tatsächlich schwer,
das nachzuvollziehen.

War das Mut?
Oder war es Über-Mut?
Also: über-menschlich viel Mut?
Oder auch: Mut, über ein normales Maß hinaus?
Und hat es sich gelohnt?

Ich bin mir nicht sicher, Petrus,
was deine Bilanz aus heutiger Sicht wäre.
Ich kann nur versuchen, das irgendwie,
anhand alter Geschichten, nachzuvollziehen.
Und ich spüre:
für dich war dieser Weg richtig.
Du hast Jesus persönlich und leibhaftig erlebt.
Als Freund. Als Lehrer. Als Mensch.
Du hast ihn reden gehört.
„Sorgt euch nicht um den nächsten Tag!“
Warst dabei, als er einen Gelähmten geheilt hat.
„Steh auf, nimm dein Bett und geh!“
Und hast geholfen, die Reste einzusammeln,
als Tausende satt wurden von 5 Broten und 2 Fischen.
Bist Augenzeuge für all das,
was wir heute Wunder nennen.
Für dich waren das keine Fragen, sondern Tatsachen.
Und heute stehe ich am Feuer um mich zu wärmen,
denke laut über all das nach
und würde dich gerne fragen:
Petrus, meinst du, es gibt sie noch, diese Wunder?
Heute?
 

Wenn ich mir das recht überlege, Petrus,
würde mir und vielen anderen
das eine oder andere Wunder guttun.
Und deshalb vielleicht auch
der eine oder andere „Mutanfall“.

Noch nie war die Kinderarmut so dramatisch wie heute.
Jetzt hoffen auf 5 Brote und 2 Fische:
ist das Mut – oder Über-Mut?

Krebs mit Anfang 20.
Jetzt hoffen auf Heilung:
ist das Mut – oder Über-Mut?

Krieg überall auf der Welt, auch in Europa.
Jetzt mit Frieden rechnen:
ist das Mut – oder Über-Mut?

Petrus, ich wünschte, es wäre alles so klar.
Für mich, für uns alle.
So klar, wie für dich damals.
Ich wünschte, ich hätte deinen Mut.
Und manchmal auch deinen Über-Mut.
Einen Mut, der über das hinausdenkt,
was gerade Fakt ist.
Der Grenzen sprengt und Großes erwartet.
Von Gott. Von Menschen.
Und manchmal auch von mir selbst.

Ja, ich beneide dich um deinen Über-Mut.
Über-Mut im besten Sinne.
Du konntest ihn deshalb haben,
weil du Zeuge warst von all dem –
und deshalb über-zeugt warst
bis in die letzte Faser deines Herzens.
 

Petrus, du hast dich von nichts und niemanden
aus dem Konzept bringen lassen.
Nicht mal von Jesus,
der wusste, wie alles kommen wird.
Der auch um die Grenze deines Muts wusste,
die du nicht wahrhaben wolltest.

Vielleicht war es deshalb so schwer zu ertragen für dich,
was Jesus dann gesagt hat.
Dass auch du dich ärgern wirst. Und scheitern.
Ihn, Jesus, verleugnen,
für den du alles geben wolltest.
Scheitern war wohl keine Option in deinem Konzept.
„Und wenn ich mit dir sterben müsste,
werde ich dich nicht verleugnen.“ 

Petrus, mal ehrlich:
aus heutiger Sicht klingt das,
wie grenzenloser Über-Mut.
Deshalb war auch die Fallhöhe beachtlich
und dein Weinen am Ende bitter.
Natürlich konntest du nicht ahnen,
was in den Tagen darauf passieren wird.

Natürlich sind wir heute um viele Erfahrungen reicher.
Natürlich würdest du jetzt
deine Grenzen besser kennen,
deine Worte anders wählen und
vielleicht manches anders einschätzen als damals.
Aber würden wir heute dann von all dem wissen?
Wäre uns diese Geschichte
auch ohne deinen Über-Mut und
ohne dein Scheitern 
erzählt worden?

Vermutlich nicht.
Und wahrscheinlich hast du - trotz allem -  
sehr viel richtig gemacht.

Du hast dich nicht anstecken lassen
von denen, die gezweifelt haben,
ob das mit Jesus richtig ist oder nicht.

Für dich war es richtig.
Und wichtig.
Und einzigartig.
Für dich war nichts infrage gestellt.
Der Abschied von Jesus keine Option.
Und das Mit-ihm-Sterben
eine Selbstverständlichkeit.

Nun ja, Petrus…
damals am Feuer,
als dann der Hahn krähte,
war es zu spät.
Du warst in deine eigene Falle getappt.
Hast schmerzlich bemerkt,
dass dich zwischenzeitlich
der Mut verlassen hatte.
Dass der Über-Mut die eigenen Grenzen
knallhart ignoriert.
Wo du eigentlich ein Vorbild warst,
hast du gnadenlos versagt.
Dein anfänglicher Mut wurde zu dem Über-Mut,
der selten gut tut. 

Ich wüsste nicht, Petrus,
wie es mir gegangen wäre.
Ob ich es geschafft hätte,
den Mut aufzubringen und die Wahrheit zu sagen.
Ich wüsste nicht,
ob ich hätte mein Leben riskieren wollen
für diesen Jesus, an dem sich alle abarbeiten.
Ehrlicherweise müsste ich sagen:
Wenn du es nicht geschafft hast,
der du mit Jesus alles Mögliche durchgestanden hast,
schaffe ich es erst recht nicht.  
 

Und so wärme ich mich hier am Feuer
und wünschte mir,
wieder und wieder,
dass wir gemeinsam hier sein könnten.

Dass wir gemeinsam weinen könnten.
Dass wir zusammen mein Unvermögen aushalten
und dein „ich kenne ihn nicht“.
Ich wünschte mir, dass wir gemeinsam warten,
bis die Nacht vorüber ist und  
es wieder hell wird.
Am Himmel und in der Seele.
Und wenn dann der Hahn kräht, würden wir beide gewiss sein,
dass nur Über-Mut uns dazu bringen kann,
alles von Jesu zu erwarten,
aber nicht das Ende.

Heute würden wir gewiss sein,
du und ich,
dass es weitergeht.
Und dass der Auferstandene uns voraus gehen wird.
In Galiläa. Und in Wendlingen. Und überall.
Amen.




Sonntag, 17. März 2024

"Dein Gott mag mein Brot nicht"

Gottesdienst zum 

Kino in der Kirche 
am 17. März 2024 
im Johannesforum


„Treffen sich zwei Männer in der Wüste…“

Der eine ist Ben. Orthodoxer Jude aus New York. Eigentlich auf dem Weg ins Heilige Land, um dort sein Studium abzuschließen und endlich standesgemäß verheiratet zu werden, denn seine große Liebe hält er geheim. Er kommt an bei seinem Onkel in Jerusalem – und wird sofort weitergeschickt. Er muss nach Alexandria, um die dortige jüdische Gemeinde zu retten und mit ihr Pessach zu feiern. Die Gemeinde ist kurz vor ihrem Ende – ihr fehlt der 10. Mann. Bis Pessach muss er dort sein, egal wie. Sonst wird sie aufgelöst und ihr komplettes Vermögen fällt an den Staat.

Die Reise erweist sich als Abenteuer und nach einer dubiosen Fahrt mit dem Bus muss er schließlich den Weg zu Fuß fortsetzen – mitten durch die Wüste.

„Treffen sich zwei Männer in der Wüste…“

Der andere ist Adel. Sein Großvater war Beduine. Er ist einer, der seine Familientradition zu einem Geschäftsmodell gemacht hat. Mit Palästinensertuch, verratzter Jeans und weißem Nomadengewand schlägt er sich als Touristen-Guide durch. Motorisiert mit einem klapprigen Toyota-Geländewagen trotzt er der Wüste Kilometer um Kilometer ab. Er ist hier groß geworden. Er kennt sich aus. Er ist auf der Suche nach seinem Kamel. Und er hält an, als Ben ziemlich verloren dabei war, aus dieser Wüste hinauszufinden.

Adel lässt Ben einsteigen in seinen klapprigen Toyota. Die Unterschiede zwischen den Beiden sind schnell deutlich. Sprache, Herkunft, Kultur – und vor allem Religion. Vieles scheint sie zu trennen.

Ob das gut geht? Findet der Eine sein Kamel und kommt der Andere in „Alex“ an?

Auf dem gemeinsamen Weg vor einem – zugegebenermaßen überraschenden – Ende passiert etwas zwischen den beiden Männern. Und wir springen jetzt direkt hinein in den Film. Wir sehen einen Ausschnitt von etwa 20 Minuten. Ich lade Sie ein, vor allem hinzuschauen und zu hören unter einer bestimmten Fragestellung: „Was passiert zwischen diesen beiden Männern?“

Filmausschnitt 37:00 bis 58:18

 

„Treffen sich zwei Männer in der Wüste…“

Es ist eine unmögliche Situation. Ehrlich gesagt geht es einfach nur ums Überleben. Für beide. Eigentlich hat keiner Interesse am anderen. Sie stammen aus völlig unterschiedlichen Welten. Er, der orthodoxe Jude. Fest verankert im jüdischen Glauben und in der jüdischen Tradition. Was in der Thora steht, wird wörtlich genommen. Die 613 Mizwe neben den 10 Geboten hat er drauf. Nicht nur auswendig im Kopf. Er lebt sie auch. Nicht nur indem er an Sabbat sein Geld abgibt und seine Tasche tragen lässt. Die rituellen Waschungen zieht er durch. Bis sein                Weggefährte ausflippt. „Die Lebensgefahr bist du!“

Und dann er, der Wüstenbewohner und Überlebenskünstler, auf der Suche nach seinem Kamel. Er weiß, was sein Überleben sicherstellt. Kennt die Wege in der Wüste, die Verstecke der Vogeleier und vor allem: die Wasserlöcher. Deshalb weiß er auch, dass der andere ohne ihn nicht überlebt. Und er beschützt ihn. Beduinengesetz. Und er versteht deshalb nachvollziehbarerweise nicht, weshalb man so dumm sein kann, und sich selbst in Lebensgefahr bringt – aus religiösen Gründen.  

Sie sind aufeinander angewiesen. Adel ist sich dessen bewusst. Ben vielleicht auch – aber seine Religion lässt ihn nicht über den Schatten springen.
Adel findet Worte. „Dein Gott mag mein Brot nicht.“
Für mich ist es, als ob Adel diesen Vorschriften-Gott von Ben plötzlich dazuholt. Zum Lagerfeuer. Ein Gott, der Brot nicht mag – das ist ein sehr präsenter Gott. Ein Gott der da ist, an diesem gottverlassenen Ort in der Wüste, dort am Feuer, wo es duftet nach Kohle und Rauch – Bifi aus der Dose und frischem Brot. Ich denke da sofort an den brennenden Busch in der Wüste. In dem Gott ist. Und an Mose, der vor diesem Busch steht und hört: Ich bin der Gott deiner Vorfahren. Ich habe eine Aufgabe für dich. Gehe nach Ägypten und befreie dein Volk. Sieh zu, dass sie wieder Pessach feiern können. Aber Ben hängt fest in der Wüste, in seinen Mizwe, in seinen Ritualen. Und der Ich- bin- da-Gott mag Adels Brot nicht.

„Treffen sich 2 Menschen in der Wüste“

Wüsten gibt es viele. Lebensfeindliche Zonen, in denen man gut überlegen muss, wie man hindurch kommt.  Nicht nur solche mit Hitze und Sand – und ohne Wasser. Ich meine damit lebensfeindliche Zonen, in denen das Alltags-Überleben irgendwie sichergestellt werden muss. Denn oft ist es gar nicht das physische Überleben. Seelenwüsten sind nicht weniger gefährlich. Und sie gibt es zu allen Zeiten und an allen Orten. Es gibt Wüsten am Arbeitsplatz, wo man nur noch hingeht, weil das Pflichtbewusstsein und wirtschaftliche Zwänge keine andere Wahl lassen. Es gibt Wüsten in Partnerschaften, in denen keine Wertschätzung geteilt wird und man nur noch zusammenlebt, weil es die günstigste Lösung ist. Und auch in unserer Kirche gibt es Wüsten. Diese Woche habe ich mit Menschen gesprochen – und jetzt muss ich leider eine Triggerwarnung aussprechen - die in unserer Kirche um das Überleben ihrer Seele kämpfen mussten. Menschen, die unsere Kirche als lebensfeindliche Zone wahrnehmen. Weil niemand sie hören wollte. Und ihnen lange Zeit niemand ihre Geschichte geglaubt hat. Die Geschichte vom sexuellen Übergriff durch den Pfarrer – und im anderen Fall durch den Posaunenchorleiter. Die beiden, mit denen ich gesprochen habe, haben den Weg aus dieser Wüste herausgefunden. Wieviele dort noch unterwegs sind, wissen wir nicht.
Wenn man einer Wüste einem Menschen begegnet, der die Gefahr kennt und um einen Weg weiß, ist das ein Segen. Einer, der die Wüste kennt wie seine Westentasche, mit dem man sich zusammentun und eine Art Hoffnungsgemeinschaft bilden kann. So ein Mensch ist nahe dran an einer Lebensversicherung. Vielleicht ist das jemand wie Adel, der völlig anders drauf ist. Aber: er kennt das Beduinengesetz und beschütz dich. Oder er weiß andere Dinge, die man wissen muss, um in Wüsten zu überleben. Mir fallen David und Jonathan ein. Als David sich auf der Flucht vor Saul im Wüstengebirge versteckt, findet ihn Jonathan dort, und es heißt: „er weckte neues Vertrauen in ihm“. Vertrauen, weiterzumachen.
Im besten Fall lernt man das, was Adel und Ben gemeinsam gelernt haben: einander zu vertrauen. Sich einander anzuvertrauen. Dann findet man auch das Wasserloch in der Wüste. Oder, wie im Verlauf der Geschichte von Ben und Adel, wieder aus dem Wasserloch heraus. Und manchmal auch das gesuchte Kamel.


„Begegnen sich (2) Menschen beim Essen“.

Vorhin hab ich gesagt: Lasst uns drauf schauen, was in dem Filmausschnitt, - und eigentlich im Laufe des ganzen Films, zwischen diesen Männern passiert.
„Dein Gott mag mein Brot nicht.“ Da scheint etwas ganz Existentielles zwischen ihnen zu stehen, als Ben das im Feuer gebackene Fladenbrot ablehnt. Es sorgt für Irritation bei seinem Gefährten. Trotzdem machen sie gemeinsam weiter. Sie erleben allerhand zusammen, als sie sich durch die Wüste schlagen. Und sie erzählen sich. Immer öfter geht es um persönliche Dinge. Sie teilen sich einander mit. Auch ihre Ängste. Ihre Liebe. Ihr Scheitern. Sie begegnen einander, indem sie nicht nur ihr Überleben einander anvertrauen, sondern auch ihr Herz. Irgendwann geht es wieder ums Essen. Am Lagerfeuer. Gemeinsam bereiten sie Fladenbrot zu und essen es. Und Adel stellt fest: „Heute mag dein Gott mein Brot.“ Der Ich-bin-da-Gott ist bei ihnen, weil sie das Brot gemeinsam zubereitet haben. Und er schafft eine Verbindung über alles hinweg, was zwischen den Männern steht. Sie lernen aus eigener Erfahrung: gemeinsam Essen schafft Frieden. Wo Menschen gemeinsam an einen Tisch essen passiert Versöhnung. Kann Vergeben werden. Und ist der Ich-bin-da-Gott mit am Tisch. Das ist so beim Pessach feiern, beim Iftar und beim Abendmahl. Und auch beim Falafel-Imbiss am Stehtisch im Kirchenkino. Daheim in der Familie und im No Name-Restaurant mitten in der Wüste, das Ben und Adel am Ende ihrer kuriosen Reise eröffnen.

Mich, und ich glaube viele von Ihnen auch, hat diese Begegnungsgeschichte berührt. Vielleicht bewegt mich dieser Film deshalb so sehr, weil die Gegend, in der er spielt, Frieden nötiger hat, denn je. Weil wir uns von Herzen wünschen, dass es solche Geschichten auch „in echt“ gibt – und eben nicht nur im Film.
Ich bin mir sicher: sie gibt es, diese Geschichten. Nicht nur dort. Immer und überall, wo Menschen zusammen essen, gehen Menschen verändert aus einer Begegnung hervor. Eine Kultur der Gastfreundschaft, ein offenes Haus und ein offenes Herz bewirkt deshalb vielleicht mehr, als manche Friedensverhandlungen. Egal ob im Nahen Osten, in Europa oder hier bei uns in Wendlingen und in unseren Familien. Amen.




(Foto: Unsplash)

Gewappnet

 

Sie fühlt sich gewappnet für Weihnachten: Stollen gebacken, Fenster geputzt, Lichterkette entknotet und installiert, Karpfen bestellt, Geschenke verpackt, Eisenbahn aufgebaut, Likör abgefüllt, Karten geschrieben, Baum gekauft und Friseurtermin für morgen gebucht. Läuft also weitgehend. Da war noch die kaputtgespielte Krippe… ach, das schafft sie heute auch noch. Und doch: ein bisschen geht ihr die Luft aus. Also erst mal Musik an, durchatmen und dann die Kiste vom Regal holen.

Die Kiste mit dem wertvollen Inhalt steht auf dem Küchentisch, neben ihr eine Flasche Leim. Sorgfältig kontrolliert sie jede Figur. Bis auf den alten Hirten ist tatsächlich alles in Ordnung. Aber der muss geklebt werden. Der Arm ist ab. Sie hält inne. Zwischen all den Hirten Königen, Engeln und Maria liegt ein kleiner Jesus in der Schachtel. Gerade mal so groß, wie ihr Finger. Aus Holz geschnitzt und sehr nackt. Bis auf den kleinen Schnipsel einer Mullbinde, die einmal als Windel um ihn herumgewickelt wurde. Sie nimmt die Figur heraus. Ihre Hand fühlt sich riesig an. Und Jesus ist so klein. Überrascht stellt sie fest: Im Gegensatz zu ihr ist dieser kleine Jesus nicht gewappnet. Nicht für diese Welt. Nicht für dieses Leben zwischen Glitzer und Geschenkpapierbergen, Lichterketten und Gebäckdosen. Jesus kam unvorbereitet zur Welt. Eine ungeplante Schwangerschaft war das, wenn sie sich richtig erinnert. Und in einem Stall geboren zu werden, war sicher kein Vergnügen.  
Sie setzt sich auf den Stuhl und ist seltsam berührt von dem Gedanken, dass ihre anstrengenden Vorbereitungen für ein möglichst perfektes Weihnachtsfest gar nichts mit diesem kleinen Baby-Jesus zu tun haben. Wenn sie ehrlich ist, dann ist er so, wie sie sich grade selbst fühlt: verletzlich, zerbrechlich, dünnhäutig. Und gar nicht weihnachtlich. Und ein bisschen ist es, als ob sie jetzt diesen kleinen Jesus beschützt mit ihrer großen Hand. Beschützt vor dieser lauten, bunten, perfekten Weihnachtswelt. Sie schluckt.
Nein, sie ist auch nicht gewappnet. Nicht für diese Situation, die sie unerwartet berührt. Sie ist nicht gewappnet für eine Begegnung mit Gott, der für sie bisher immer ein bisschen rätselhaft war. Und ziemlich weit weg. Jetzt liegt er in ihrer Hand: Gott, dieses verletzliche, zerbrechliche, dünnhäutige Wesen. Das Radio dudelt vor sich hin, während sie ihren Gedanken nachhängt. Ein paar Wortfetzen einer weiblichen Stimme dringen zu ihr durch:
Wir haben die Wahl
Wir könnten auch mal was riskieren
Wir könnten uns verletzlich zeigen und die Hoffnung nicht verlieren
(Aus dem Album: Berge; Für die Liebe; ©Dimitri Bortnianski / Gerd Koethe / Michael Kunze / Roland Heck)

Sie blickt den kleinen Jesus in ihrer Hand an. Stellt fest: Das ist ein sehr hilfloser Gott. Dem Leben nicht gewappnet. Ein Kind – gerade mal eine Hand voll. Und doch ist er der Heiland der Welt. Ein Gedanke schießt ihr durch den Kopf: Vielleicht ist Hoffnung das einzige, mit dem wir uns wirklich wappnen können. Vor ihrem inneren Auge sieht sie Bilder aus Israel und Gaza und Syrien, vom Mittelmeer und aus der Ukraine. Kinder, Frauen, Männer. In Gedanken ist sie auch bei dem Mann, der unten am See wohnt und der nur aus einer Plastiktüte lebt. Sie hört das Lied nochmal an. Wir haben die Wahl tönt es wieder aus dem Lautsprecher.  Ja, ich hab die Wahl, denkt sie laut. Weihnachten ist, wenn man mit Hoffnung gewappnet ist. Sie legt den kleinen Jesus wieder zurück zu den anderen Figuren. Daneben liegt der alte Hirte. Der Leim muss noch trocknen, aber dann ist er wieder heil. Auch wenn der Lack ab ist.