Mittwoch, 13. April 2022

Leben, durchkreuzt (2)

Passionsandacht in der 
Eusebiuskirche Wendlingen am Neckar 
zu Bildern des Kreuzweges "JesusArt"
von Mika Springwald

(Ökumenischer Kreuzweg der Jugend 2017  (c) Jugendhaus Düsseldorf)

Kein Trost, niemals?

I. 

Sie steht da,
ihr Blick ist abgewandt.
Vielleicht ist sie 8 Jahre alt oder 10.
Steht da, kerzengerade.
Auf den ersten Blick
ist das lange Haar zu zwei Zöpfen gebunden.
Sie trägt einen blutroten Pulli.
Eigentlich ein typisches Mädchen
mit Teddybär.
Aber nur im ersten Moment.

Ich schaue genauer hin und mir wird bewusst:
Der linke Arm ist nicht zu sehen.
Hält sie ihn vor Schreck vors Gesicht?
Vielleicht erstickt hinter ihrer linken Hand
ein Schrei der Ohnmacht und des Entsetzens.
Was mag sie wohl sehen?
Welcher Schmerz
bleibt uns verborgen?
Was hat ihr Leben durchkreuzt?

Oder ist der linke Arm deshalb nicht zu sehen,
weil er gar nicht vorhanden ist?
Nie da gewesen von Geburt an?
Abhandengekommen
durch Krankheit oder Unfall,
oder noch schlimmer - durch Krieg? 
Wenn mein Blick weiter wandert zum rechten Arm
sehe ich, fest in der Hand,
den abgerissenen Arm eines Teddybären.
Und den verletzten Bären
am Boden, in die andere Richtung schauend.
Der blickt mich an.
Das verletzte, ramponierte Kuscheltier
stellt den Blickkontakt her zu mir.
Dieser Teddy, der jeden Schmerz
und jede Träne kennt.
Nichts gab mehr Sicherheit,
mehr Trost, mehr Geborgenheit -
als er.
Er ist noch da, aber verletzt.
Zerbrochen.
Durchkreuzt?

Welches Leid sich wohl in seinem Blick verbirgt?
Und dann fällt mir noch etwas auf:
Wenn ich das Mädchen betrachte,
irittiert mich der überdimensionierte Scheitel.
Wie ein Riss zieht er sich von oben nach unten.
Ein Riss vom Kopf zum Herzen hin.
Eine durchkreuzte Kinderseele?

II. 


Der Trost geht sterben.
Er ist auf dem Weg nach Golgatha.
Mit dem Kreuz.
So viele gute Worte hatte er.
Eins ums andere Mal hat er ihre Herzen berührt
und Seelen aus den dunkelsten Winkeln hervorgeholt.
Er hat mit ihnen gegessen und
sie mit Wertschätzung bedacht.
Ein Freund war er für sie im besten Sinne.
Und, im Gegensatz zu manch anderen,
irgendwie doch auch ein Frauenversteher. 
Untröstlich sind sie jetzt –
und sie weichen Jesus nicht von der Seite:
Maria, Maria von Magdala, Johanna, Salome
und all die anderen Frauen.
Unverständlich ist für sie,
was mit ihrem Freund passiert.
Ein Häuflein Elend ist er.
Geschlagen, gefoltert, gequält
blickt er sie an.
Nichts gab ihnen mehr Sicherheit als er.
Und nun ist Jesus ein gebrochener Mann.
Wenigstens ein letztes Wort
wollen sie ihm mitgeben.
Und vor allem: ihn nicht im Stich lassen.

Es folgte ihm aber eine große Volksmenge und Frauen,
die klagten und beweinten ihn.
Jesus aber wandte sich um zu ihnen und sprach:
Ihr Töchter von Jerusalem,
weint nicht über mich,
sondern weint über euch selbst und eure Kinder.
Lukas 23, 27 & 28

Kein Trost – niemals?
Was Jesus sagt, klingt hart.
Jammern, schreien, klagen:
All das darf sein.
Aber nicht über ihn.
Für seinen Weg gibt es keine Alternative.
Für ihn wird nichts wieder gut,
und das weiß er.
Deshalb kann er auch
keine trostreichen Worte machen.
Kann nicht sagen:
macht euch keine Sorgen, ich schaffe das!
Er weiß, was kommt.
Er kennt den Weg.
Geht ihn.
Zerbricht.
Lässt sich zerstören
bei vollem Bewusstsein.
Tut das, wovor Menschen
sich und einander versuchen zu schützen:
lässt entfesselte Gewalt über sich ergehen.
Lässt sich durchkreuzen.
Da ist kein Trost. Niemals?


III.  

Ihr Töchter von Jerusalem,
weint nicht über mich,
sondern weint über euch selbst und eure Kinder!
Und ihr Söhne, weint auch!

Ihr Töchter und Söhne von Butscha,
weint nicht über mich,
sondern weint über euch selbst und über eure Kinder!
Und über eure Eltern, Frauen und Männer,
die ihr tot in den Straßen fandet. 

Ihr Töchter und Söhne von Kamerun,
weint nicht über mich,
sondern weint über euch selbst und eure Kinder,
die ihr für Bildungsgerechtigkeit
mit Waffen kämpfen müsst. 

Ihr Töchter und Söhne der großen Machtsysteme,
auch der Kirchen,
weint nicht über mich,
sondern weint über euch selbst und eure Kinder,
und um die Seelen,
die durch euren Machtmissbraucht zerstört wurden.
Und stellt euch an die Seite der Opfer! 

Ihr Töchter und Söhne von Wendlingen,
weint nicht über mich,
sondern weint über euch selbst und eure Kinder,
die ihr aufgegeben habt
zu glauben, zu lieben und zu hoffen. 

Weint nicht über mich,
aber weint!

Alles hat seine Zeit – möchte man Jesus sagen hören,  
also weint!
Alles hat seine Zeit, auch das Klagen.
Alles hat seine Zeit.
Auch Trostlosigkeit, Trauer und Schmerz.
Und die Erkenntnis,
dass in manchen Situationen
nichts, gar nichts, hilft.
Es gibt keine Worte,
die die Toten von Butscha zurückbringen.
Keine Vergewaltigung kann
ungeschehen gemacht werden.
Keine Ungerechtigkeit kann
zurechtgetröstet werden,
wenn nicht Taten damit einhergehen
und Unrecht beseitigt wird. 

Also doch: kein Trost, niemals?
Vielleicht.
In der Karwoche bleiben wir beim Schmerz.
Sehen wir da hin, wo es weh tut.
Weinen wir mit dem Mädchen und dem Teddybären
und spüren den Seelenschmerz.
Halten das zusammen aus.

Zusammen.
Wie die Frauen bei Jesus.

Vielleicht liegt darin das Geheimnis der Karwoche
und des Lebens überhaupt:
Nicht alleine zu sein im Schmerz.
Zusammen aushalten,
was nicht auszuhalten ist.
Sich anlehnen können an einer Schulter.
Zusammen schweigen –
oder auch alles sagen dürfen. Alles.
Schreien und klagen dürfen.
Einander spüren und gegenseitig stützen.
Seite an Seite.
Das gibt Stärke.
Und Halt.
Und Trost.
Auf dem Weg nach Golgatha
und auf dem Weg
durch die Nächte unseres Lebens
und die Nächte dieser Welt.
Amen.


Dienstag, 12. April 2022

Leben, durchkreuzt (1)

Passionsandacht in der 
Eusebiuskirche Wendlingen am Neckar 
zu Bildern des Kreuzweges "JesusArt"
von Mika Springwald
(Ökumenischer Kreuzweg der Jugend 2017  (c) Jugendhaus Düsseldorf)

Keine Hilfe, von niemandem? 

I. 

Völlig vermummt ist er.
Oder sie?
Ich sehe kein Gesicht.
Keine Augen und keine Haare.
Nur eine Schutzbrille,
eine FFP2-Maske,
einen gelben Schutzanzug und
blaue Handschuhe.
Darin ein Mensch.
Er atmet.
Bewegt sich.
Packt an.
Hat entschieden zu helfen.

Sehen so Held:innen aus?
Ich weiß es nicht.
Würde man fragen:
„Bist du ein Held oder eine Heldin?“
würden die meisten wahrscheinlich antworten:
Nein. Da ist nichts Heldenhaftes.
Ich helfe, weil ich helfen muss.
Ich helfe, weil ich es kann.
Ich helfe, weil mir nichts anderes übrig bleibt.
Weil sich so viele andere hilflos fühlen.
Und weil es so viele Menschen gibt,
die glauben,
dass es keine Hilfe gibt, von niemandem.

Wem und wie dieser Mensch hilft,
sehen wir nicht.
Es könnte ein Krankenpfleger sein,
auf der Corona-Station.
Es könnte die Feuerwehrfrau sein,
die bei einem Chemie-Unfall im Einsatz ist.
Der Arbeiter im Kernkraftwerk,
der Atommüll entsorgt.
Die Labormitarbeiterin,
die forscht an krebserregenden Stoffen.

Ein Mensch hilft.
Trägt seine Haut zum Markt.
Geht selbst ein Risiko ein.
Bekommt dafür vielleicht Gehalt –
aber tatsächlich auch, was er verdient?
(Als zynischen Bonus gibt’s Applaus.)
Eventuell gibt’s aber auch gar kein Gehalt,
sondern nur eine Ehrenamtspauschale.
Oder einen Handschlag.
Ein dankbares Nicken,
ein Blick.
Oder… nichts?
Dieser Mensch hilft trotzdem.
Trotz allem.
Weil er oder sie entschieden hat zu helfen.

Keine Hilfe, von niemandem?
Doch es gibt sie.
Diese Menschen,
die ihr eigenes Leben durchkreuzen lassen
von Alarmpiepsern, Nachtschichten,
Wochenenddiensten,
gesundheitlichen Belastungen.
Sie verzichten auf Freizeit und Geld.
Schlaf.
Ein geregeltes Familienleben.
Stellen Freundschaften hintenan und
verzichten auf Hobbies.
Gehen über Grenzen
um zu helfen.
Und fragen dabei oft nicht,
was mit ihnen selbst ist.

 

II. 

Völlig verstummt ist er.
Jesus.
Ich sehe sein Gesicht.
Seine Augen blicken zu mir.
Seine Haare hängen wirr vom Kopf.
Der Angstschweiß läuft die Schläfen herunter.
Bekleidet nur mit einem Hemd,
verklebt, mit der blutig geschlagen Haut.
Völlig schutzlos.
Allen ausgeliefert.
Dem Leben und der Wut genauso,
wie dem Tod.
Er atmet.
Bewegt sich.
Packt das Kreuz.
Trägt es selbst nach Golgatha.
Hat entschieden, zu helfen.

Sie nahmen ihn aber, und er trug sein Kreuz
und ging hinaus zur Stätte,
die da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch:
Golgatha.
Johannes 19,17


Jesus packt an
und trägt das Kreuz nach Golgatha.
Trägt die Las
t der Welt selbst dorthin,
an den Platz, an dem gerichtet,
hingerichtet werden soll.
Nimmt das Kreuz auf sich und bringt es selbst
an den Ort des Todes und der Verdammnis.
Nimmt Schmerz, Tränen und Tod
der ganzen Welt
und von mir
und trägt alles mit seinen eigenen Händen.
Trägt alles dorthin,
wo durchkreuztes Leben für alle weithin sichtbar ist.
Jesus fragt nicht nach sich selbst
und danach, was er ertragen kann und will.
Fragt nicht, was er selbst verdient hat.

Jesus hat entschieden zu helfen. 
Sich und sein Leben durchkreuzen zu lassen.
Den Weg derer mitzugehen,
die keine Hilfe mehr erwarten, von niemanden.
Den Tod derer mitzusterben,
denen keiner mehr zum Leben hilft.  
Keine Hilfe, von niemandem?
Nein, nicht für Jesus.  


III. 
 

Manchmal ist um Hilfe zu bitten
schwieriger,
als zu helfen. 

Manchmal sehe ich
die Hilfsbedürftigkeit anderer
viel deutlicher, als meine eigene.

Manchmal fällt es mir viel leichter,
für andere über meine Grenzen zu gehen,
als meine eigenen Grenzen zu respektieren.

Und manchmal WILL ich gar keine Hilfe.
Von niemandem.
Weil ich selber stark sein möchte.
Unabhängig und frei entscheiden will
über mein Wohlergehen.
Und auch über Freude und Schmerz.
Und über das, was ich ertragen kann
und ertragen will.

Manchmal?
Eigentlich immer.
Bis zu diesem einen Punkt,
an dem alles anders wird.

Ich will keine Hilfe,
von niemandem,
bis…
… ja, bis der Schmerz kommt
und die Trauer
über den Verlust
dieses einen, geliebten Menschen.
Bis die Sorge kommt
um die eigene Gesundheit
oder die der Kinder oder Eltern.
Bis die Liebe unwiederbringlich gescheitert ist.
Bis der Job tatsächlich weg ist,
das Konto leer und die
Depression schwarze Löcher in die Seele frisst.

Ich will keine Hilfe,
von niemandem,
bis…
… ja, bis mein Leben durchkreuzt wird.
Dann, erst dann,
beginne ich zu verstehen.

Dass es auch Hilfe gibt für mich.
Und dass auch ich es verdient habe,
herausgeholt zu werden.
Aus meinem Schmerz und meiner Trauer.
Aus Verzweiflung, Existenzangst und Depression.

Wenn mein Leben durchkreuzt wird
und ich selbst nicht mehr daran glauben kann,
dass etwas gut ausgeht:
dann, erst dann,
beginnt die Erfahrung,
dass ein Mensch für mich da ist.   
Ein Mensch, dessen Telefon für mich bereit steht,
dessen Piepser für mich Alarm auslöst
und dessen Herz meinetwegen schneller schlägt.
Ein Mensch, der mich herausholt
aus den finstersten Ecken,
in die meine Seele sich verkrochen hat.
Und ein Mensch, der mir erzählt von dem,
der sich durchkreuzen ließ,
um mit mir
hindurchzugehen
durch das alles.
Und der mir dann,
im Dunkel meiner Nacht,
den Weg ins Licht zeigt.

Amen.