Dienstag, 12. April 2022

Leben, durchkreuzt (1)

Passionsandacht in der 
Eusebiuskirche Wendlingen am Neckar 
zu Bildern des Kreuzweges "JesusArt"
von Mika Springwald
(Ökumenischer Kreuzweg der Jugend 2017  (c) Jugendhaus Düsseldorf)

Keine Hilfe, von niemandem? 

I. 

Völlig vermummt ist er.
Oder sie?
Ich sehe kein Gesicht.
Keine Augen und keine Haare.
Nur eine Schutzbrille,
eine FFP2-Maske,
einen gelben Schutzanzug und
blaue Handschuhe.
Darin ein Mensch.
Er atmet.
Bewegt sich.
Packt an.
Hat entschieden zu helfen.

Sehen so Held:innen aus?
Ich weiß es nicht.
Würde man fragen:
„Bist du ein Held oder eine Heldin?“
würden die meisten wahrscheinlich antworten:
Nein. Da ist nichts Heldenhaftes.
Ich helfe, weil ich helfen muss.
Ich helfe, weil ich es kann.
Ich helfe, weil mir nichts anderes übrig bleibt.
Weil sich so viele andere hilflos fühlen.
Und weil es so viele Menschen gibt,
die glauben,
dass es keine Hilfe gibt, von niemandem.

Wem und wie dieser Mensch hilft,
sehen wir nicht.
Es könnte ein Krankenpfleger sein,
auf der Corona-Station.
Es könnte die Feuerwehrfrau sein,
die bei einem Chemie-Unfall im Einsatz ist.
Der Arbeiter im Kernkraftwerk,
der Atommüll entsorgt.
Die Labormitarbeiterin,
die forscht an krebserregenden Stoffen.

Ein Mensch hilft.
Trägt seine Haut zum Markt.
Geht selbst ein Risiko ein.
Bekommt dafür vielleicht Gehalt –
aber tatsächlich auch, was er verdient?
(Als zynischen Bonus gibt’s Applaus.)
Eventuell gibt’s aber auch gar kein Gehalt,
sondern nur eine Ehrenamtspauschale.
Oder einen Handschlag.
Ein dankbares Nicken,
ein Blick.
Oder… nichts?
Dieser Mensch hilft trotzdem.
Trotz allem.
Weil er oder sie entschieden hat zu helfen.

Keine Hilfe, von niemandem?
Doch es gibt sie.
Diese Menschen,
die ihr eigenes Leben durchkreuzen lassen
von Alarmpiepsern, Nachtschichten,
Wochenenddiensten,
gesundheitlichen Belastungen.
Sie verzichten auf Freizeit und Geld.
Schlaf.
Ein geregeltes Familienleben.
Stellen Freundschaften hintenan und
verzichten auf Hobbies.
Gehen über Grenzen
um zu helfen.
Und fragen dabei oft nicht,
was mit ihnen selbst ist.

 

II. 

Völlig verstummt ist er.
Jesus.
Ich sehe sein Gesicht.
Seine Augen blicken zu mir.
Seine Haare hängen wirr vom Kopf.
Der Angstschweiß läuft die Schläfen herunter.
Bekleidet nur mit einem Hemd,
verklebt, mit der blutig geschlagen Haut.
Völlig schutzlos.
Allen ausgeliefert.
Dem Leben und der Wut genauso,
wie dem Tod.
Er atmet.
Bewegt sich.
Packt das Kreuz.
Trägt es selbst nach Golgatha.
Hat entschieden, zu helfen.

Sie nahmen ihn aber, und er trug sein Kreuz
und ging hinaus zur Stätte,
die da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch:
Golgatha.
Johannes 19,17


Jesus packt an
und trägt das Kreuz nach Golgatha.
Trägt die Las
t der Welt selbst dorthin,
an den Platz, an dem gerichtet,
hingerichtet werden soll.
Nimmt das Kreuz auf sich und bringt es selbst
an den Ort des Todes und der Verdammnis.
Nimmt Schmerz, Tränen und Tod
der ganzen Welt
und von mir
und trägt alles mit seinen eigenen Händen.
Trägt alles dorthin,
wo durchkreuztes Leben für alle weithin sichtbar ist.
Jesus fragt nicht nach sich selbst
und danach, was er ertragen kann und will.
Fragt nicht, was er selbst verdient hat.

Jesus hat entschieden zu helfen. 
Sich und sein Leben durchkreuzen zu lassen.
Den Weg derer mitzugehen,
die keine Hilfe mehr erwarten, von niemanden.
Den Tod derer mitzusterben,
denen keiner mehr zum Leben hilft.  
Keine Hilfe, von niemandem?
Nein, nicht für Jesus.  


III. 
 

Manchmal ist um Hilfe zu bitten
schwieriger,
als zu helfen. 

Manchmal sehe ich
die Hilfsbedürftigkeit anderer
viel deutlicher, als meine eigene.

Manchmal fällt es mir viel leichter,
für andere über meine Grenzen zu gehen,
als meine eigenen Grenzen zu respektieren.

Und manchmal WILL ich gar keine Hilfe.
Von niemandem.
Weil ich selber stark sein möchte.
Unabhängig und frei entscheiden will
über mein Wohlergehen.
Und auch über Freude und Schmerz.
Und über das, was ich ertragen kann
und ertragen will.

Manchmal?
Eigentlich immer.
Bis zu diesem einen Punkt,
an dem alles anders wird.

Ich will keine Hilfe,
von niemandem,
bis…
… ja, bis der Schmerz kommt
und die Trauer
über den Verlust
dieses einen, geliebten Menschen.
Bis die Sorge kommt
um die eigene Gesundheit
oder die der Kinder oder Eltern.
Bis die Liebe unwiederbringlich gescheitert ist.
Bis der Job tatsächlich weg ist,
das Konto leer und die
Depression schwarze Löcher in die Seele frisst.

Ich will keine Hilfe,
von niemandem,
bis…
… ja, bis mein Leben durchkreuzt wird.
Dann, erst dann,
beginne ich zu verstehen.

Dass es auch Hilfe gibt für mich.
Und dass auch ich es verdient habe,
herausgeholt zu werden.
Aus meinem Schmerz und meiner Trauer.
Aus Verzweiflung, Existenzangst und Depression.

Wenn mein Leben durchkreuzt wird
und ich selbst nicht mehr daran glauben kann,
dass etwas gut ausgeht:
dann, erst dann,
beginnt die Erfahrung,
dass ein Mensch für mich da ist.   
Ein Mensch, dessen Telefon für mich bereit steht,
dessen Piepser für mich Alarm auslöst
und dessen Herz meinetwegen schneller schlägt.
Ein Mensch, der mich herausholt
aus den finstersten Ecken,
in die meine Seele sich verkrochen hat.
Und ein Mensch, der mir erzählt von dem,
der sich durchkreuzen ließ,
um mit mir
hindurchzugehen
durch das alles.
Und der mir dann,
im Dunkel meiner Nacht,
den Weg ins Licht zeigt.

Amen.




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