Mittwoch, 13. Juli 2022

Wer wie ein Baum ist...

Predigt zum Gottesdienst im Haus Taläcker am 12. Juli 2022


Es ist ein besonderer Apfelbaum.
Er steht in Ho, einem kleinen Dorf in Dänemark. 
Und er hat es mir angetan.

Nicht weil es eine besondere Apfelsorte ist,
sondern weil seine Form besonders ist.

Im Vergleich zu den sehr geraden Bäumen,
die man im Hintergrund sieht,
ist der Apfelbaum krumm und schief.
Sogar der Stamm teilt sich in 2 dünne Stämme kurz über dem Boden –
für einen Apfelbaum ist das doch eher unüblich.
Was mag er wohl erlebt haben, dieser Apfelbaum?
Sicher haben ihm Wind und Wetter zugesetzt.
Er steht ziemlich ungeschützt an der Nordsee.
Wind und Sturm gehören dort zum Normalprogramm.  
Aber das alleine kann ihm nicht so zugesetzt haben.
Die anderen Bäume sind ja auch einigermaßen gerade gewachsen.
Er steht am Rande eines Parkplatzes.
Ob er wohl mal unsanft von einem Auto angerempelt wurde,
dass er so in die Knie ging?
Ich weiß es nicht.
Wir können tatsächlich nur raten.
Jedenfalls scheint dieser Apfelbaum
seine ganz eigene Geschichte zu haben.
Was ich daran bemerkenswert finde:
Er wuchs einfach weiter.
Dass da was nicht in Ordnung war,
hat ihn nie am Wachsen gehindert.
Er steht zwar krumm, aber sehr stabil.
Was auch immer ihm so zugesetzt hat:
Das kann nicht erst kurz vorher passiert sein.
Es muss schon lange er gewesen sein.
Aber: er wächst trotzdem.
Und: bringt Frucht.
Da hängen Äpfel dran.
So, wie es sich für einen Apfelbaum gehört.

Mich erinnert dieser Baum an einen Psalm.
In Psalm 1 heißt es:
Glücklich ist der Mensch,
der nicht dem Vorbild der Frevler folgt
und nicht den Weg der Sünder betritt.
Vielmehr freut er sich über die Weisung des Herrn.
Tag und Nacht denkt er darüber nach
und sagt Gottes Wort laut vor sich hin.
Er gleicht einem Baum,
der am Wasser gepflanzt ist.
Früchte trägt er zu seiner Zeit,
und seine Blätter welken nicht.

Wenn ich diesen Psalm früher gelesen habe,
dachte ich immer an einen großen und grünen Baum.
Fehlerfrei und makellos.
Kerzengerade in den Himmel gewachsen.
Gut, solche Bäume gibt es auch.
 Manche davon zieren eine Allee oder einen Park.
Aber oft stehen sie da nur so makellos, weil nachgeholfen wird.
Einige davon stehen an Stellen,
wo der Bauhof mit dem Wasserfass hinfahren muss, um zu gießen –
weil zu wenig Wasser da ist.
Viele Bäume werden gestutzt und in Form gebracht –
manchmal mehr als notwendig. Dass es „ordentlich“ aussieht.
Der Baum auf dem Foto sieht nicht ordentlich aus.
Er wurde vermutlich noch nie gegossen und in Form gebracht.
Was da ist und wie er ist, reicht.
Nicht zum perfekten Aussehen,
sondern zum Wachsen und Frucht bringen. 

Ein tröstlicher Gedanke.
Wenn ich auf mein Leben schaue,
dann fühle ich mich manchmal auch eher wie ein krummer Baum.
Einer über den mancher Sturm hinweggefegt ist.
Angerempelt wurde ich auch das eine oder andere Mal.
Und wahrscheinlich gab es auch
manche Entscheidung oder gar Verletzung,
die dafür gesorgt hat,
dass mein Leben ganz anders wurde,
als ich mir das vorgestellt habe.
Was bei diesem Baum dazu geführt hat,
dass sich der Stamm in zwei Hälften teilt?
Wir wissen es nicht.
Aber Erlebnisse, die schier zerreißen und nahezu
einen anderen Menschen aus uns machen,
das kennen sicher alle.
Sicher könnte jede*r eine oder mehrere Geschichten dazu erzählen.
Eine Geschichte vom Verlust eines geliebten Menschen.
Eine Geschichte vom Zerbruch in der Familie.
Eine Geschichte vom Scheitern im Beruf.
Eine Geschichte vom Betrogen werden.
Eine Geschichte von zerstörter Freundschaft.
Eine Krankheitsgeschichte oder gar einen Unfall mit großen Folgen.
Eine Geschichte vom Krieg.
Kein Mensch kommt ohne Schmerzen und Verletzungen durchs Leben. Niemand ist vor wilden Stürmen geschützt
und vor großen Entscheidungen gefeit –
und oft weiß man erst im Nachhinein,
ob eine Entscheidung richtig war oder nicht.
Und manchmal waren Entscheidungen halt auch falsch.
Das alles hat Sie, uns alle zu den Menschen gemacht,
die wir heute sind – so wie auch der Apfelbaum
zu dem Baum wurde, wie er auf dem Foto zu sehen ist.
Gezeichnet vom Leben.
Vielleicht krumm und schief, mit Verwachsungen und Narben.
Aber: mit Blättern und Früchten.

Entscheidend ist die Quelle.
Für den Baum genau so, wie für den Menschen.
Wie der Baum das Wasser braucht,
um im Herbst trotz aller Widrigkeiten Äpfel zu tragen,
so brauchen auch Menschen ihre Quelle.
Für den Psalmbeter ist diese Quelle das Wort Gottes,
ja, Gott selber.
Mit Gott macht er gemeinsame Sache -
nicht mit den anderen,
die darüber nur müde lächeln oder fies grinsen.
Mit Gott verbündet er sich – sogar Tag und Nacht,
wie der Baum, an dem Tag und Nacht
das Wasser im Bach vorbeifließt.
Und aus dem er ganz selbstverständlich schöpfen kann.
Da muss kein Bauhof kommen
mit dem Wasserfass kommen
und niemand einen Eimer schleppen.
Es ist selbstverständlich für alles gesorgt.
Wenn Sie darüber nachdenken, wie alles geworden ist:
vielleicht entdecken Sie dann auch
an der einen oder anderen Stelle, dass Gott da war.
Vielleicht sogar ganz selbstverständlich und nahezu unbemerkt.
Wie der Bach, der da immer ist.
Vielleicht aber auch sehr bewusst und eindrücklich und unvergesslich.
Vielleicht lässt sich manches im Nachhinein
auch gar nicht mehr so richtig erklären oder nachvollziehen,
warum etwas krumm gewachsen oder vernarbt ist.
Aber das ist gar nicht schlimm,
denn der Baum lebt bis heute – und ist grün.
Entscheidend ist nicht, wie ein Baum aussieht.
Entscheidend ist, er trägt Äpfel.
Ich bin mir sicher: ernten können Sie alle reichlich.
Amen.