Sonntag, 30. Juni 2019

Tischgeschichten

Gottesdienst in Frickenhausen
30. Juni 2019


Gnade sei mit euch und Frieden.
Von dem der war, der ist und der kommt. Amen.


Jerusalem I

Nächstes Jahr in Jerusalem.
So grüßen sich
die frommen Jüdinnen und Juden
am Ende des Pessachfestes.
Nach dem Mahl,
das erinnert an
Schmerz und Trauer.
Und an das,
was das zerstreute Volk
zusammen hält.
Nächstes Jahr in Jerusalem.
Diese Worte
drücken alles aus,
was man hofft,
was man glaubt,
was man liebt.

Woher man kommt.
Und wohin man sehnt.

Nächstes Jahr in Jerusalem.
In der Stadt des Friedens.
Am Ziel
nach Wüste
und Flucht
und Exil.
Nächstes Jahr in Jerusalem
bedeutet Sitzen am gedeckten Tisch.
Nächstes Jahr in Jerusalem
ist eine Idee davon,
wie Heimat riecht und schmeckt.
Es ist der „Place to be“.
Dort, wo man weiß:
Ich bin zu Hause.
Hier bin ich richtig.
Und an alles ist gedacht.
Und man wird erwartet.
Und der Tisch ist gedeckt. 


Jerusalem II

Hin nach Jerusalem!
Hinauf nach Zion!
So schreit es der Prophet.

Worte aus dem Buch Jesaja (Jes 55):

Wohlan, alle, die ihr durstig seid,
kommt her zum Wasser!
Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst!
Kommt her und kauft ohne Geld
und umsonst Wein und Milch!

Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist,
und euren sauren Verdienst für das,
was nicht satt macht?
Hört doch auf mich, so werdet ihr Gutes essen
und euch am Köstlichen laben.

Neigt eure Ohren her und kommt her zu mir!
Höret, so werdet ihr leben!


Kindheit

Als Kind
fand ich ihn riesig.
Den Tisch im Haus meiner Großeltern.
Er war quadratisch.
Und aus robustem Holz.
Holz, dem man die Macken und Flecken ansieht.
Ein Gebrauchsgegenstand mit Geschichte.
Selten zierte ihn eine Tischdecke.
Kein feiner Tisch war es,
sondern das, was man heute als
„rustikal“ bezeichnen würde.

Und er hatte eine Botschaft,
dieser Tisch.
Wie der Prophet.
Oder zumindest so ähnlich.

Kommt her!
Kommt her, ihr Hungrigen!
Und ihr Durstigen!
Hier ist Platz für euch!
Es gibt zu essen
und zu trinken.
Hier ist für alles gesorgt.
So reden
Prophet und Tisch.
Damals in Jerusalem.
Und damals,
aber im Vergleich noch nicht sehr lange her,
in Oberesslingen.



Place to be

Mehrmals in der Woche saß ich an diesem Tisch.
Als kleines Mädchen,
zu Besuch bei den Großeltern.  
Und auch später,
als ich größer war und  
gleich nebenan zur Schule ging.
Nicht mehr daheim, im beschaulichen Dorf,
sondern in der großen Stadt.
Aber da, wo nebenan der Tisch stand.
Gedeckt, im Angesicht meiner Feinde.
Und immer ein voll eingeschenktes Glas.
Mit Grapefruitsprudel.
Und ein gutes Wort.
Und ein offenes Ohr.

Vieles hat sich seither verändert.
Aber der alte Tisch
steht immer noch an seinem Platz
bei der Eckbank.
Dort in der Diele in Oberesslingen.
Im Wohnhaus,
das bis heute zu dieser riesigen Gärtnerei gehört.
Dem Spielplatz meiner Kindheit.
Ein Familienbetrieb.
Mit Azubis und Angestellten.
Mit Gärtnern und Floristinnen.
Mit Alten und Jungen.
Mit denen, die schon lange dazu gehörten
und denen,
die für ein paar Wochen als Aushilfen jobbten.
Viele gingen dort ein und aus,
und alle saßen an diesen Tisch.
Manche täglich,
andere sporadisch.

Er wurde an die nächsten Generation vererbt.
Mit Haus, Hof und Betrieb.
Als ich klein war, waren sogar die Urgroßeltern noch da.
Meine Urgroßeltern.
Heute ist es die Urgroßmutter meiner Tochter,
die den „Altersvorsitz“ hat.

Nie saß ich alleine
an diesem Tisch.
Es war und ist bis heute
ein Mehrgenerationenhaus.
Eine bunte Arbeitsgemeinschaft.
Und ein offenes Haus.
Wer da ist, bekommt etwas zu essen.
Oder zumindest einen Kaffee.
Oder einen Sprudel.
Und irgendwie
ist immer jemand da,
der Durst hat.
Oder Hunger.
Oder eine schmerzende Seele.
Und der Tisch ist da.
Und bietet Platz
für alle die ihn brauchen.
Place to be.

Wohlan, alle, die ihr durstig seid,
kommt her zum Wasser!
Auf den Berg Zion.
Und zum Tisch.


Gäste

Nebenan ist die Küche.
Dort hing auf der Rückseite der Tür
ein Tuch.
Eigentlich ist es ein Geschirrtuch.
Aber es war wohl zu schade,
um das Geschirr abzutrocknen.
Man hat ihm eine andere Aufgabe gegeben:
es hing an der Rückseite der Küchentür.
Und es stand eine Botschaft darauf:

5 sind geladen,
10 sind gekommen,
gieß Wasser zur Suppe,
heiß alle willkommen.

Wie bei Jesaja:

Siehe, ich habe ihn den Völkern zum Zeugen bestellt,
zum Fürsten für sie und zum Gebieter.

Siehe, du wirst Völker rufen,
die du nicht kennst,
und Völker, die dich nicht kennen,
werden zu dir laufen um des HERRN willen,
deines Gottes, und des Heiligen Israels,
der dich herrlich gemacht hat.

5 sind geladen,
10 sind gekommen,
gieß Wasser zur Suppe,
heiß alle willkommen.

Meine Großmutter hat mir dieses
Geschirrtuch irgendwann vererbt.
Erst neulich hatte ich es wieder im Bügelkorb.
Und ich habe meine Großmutter gefragt,
woher das stammt und warum das da hing.
An der Küchentür. 
In der Küche neben diesem Tisch.
Sie konnte es mir nicht so recht erklären.
Es hing halt da.
Als Kind wusste ich,
intuitiv und ohne nachzudenken:
das stimmt.
Es sind alle willkommen.
Und es ist genug
für alle da.
Wohlan, alle, die ihr durstig seid,
kommt her zum Wasser!
Und zum Grapefruitsprudel
Und zum Kaffee.
Kommt her,
es gibt Roggenmischbrot
mit Becel-Margarine und Salami.
Und gebratene Leber mit Kartoffelbrei.
Und ein freundliches Wort
und ein offenes Ohr.   



Tische
5 sind geladen,
10 sind gekommen,
gieß Wasser zur Suppe,
heiß alle willkommen.
Nie habe ich das in Frage gestellt,
was ich als Kind
im Haus meiner Großeltern
erlebt habe.
Ich habe auch nie darüber nachgedacht.
Es war, wie es war.
Aber es war gut.
Der Tisch war mir
im Laufe meines Lebens
zum inneren Bild geworden.
Ohne, dass ich es bemerkt hatte.
In der Vesperkirche,
sitzen Menschen an
solchen Tischen.
Sie werden ihnen
für drei Wochen
zur Heimat.
Es gibt nicht nur zu Essen und zu Trinken.
Es gibt Frisör und Nähstube.
Und Konzert und Katzenfutter.
Aber meisten kommen, weil sie wissen:
Hier darf ich sein, wie ich bin:
Ein von Gott geliebter Mensch.
Trotz allem, was ich bin
und was aus mir wurde.
Und am Ende heißt es:
Nächstes Jahr in der Vesperkirche.
Da sind aber auch Gedanken,
die weiter reichen.
Zu den Menschen,
die mehr brauchen
und erhoffen
und sehnen.
Die durstig und hungrig sind
nicht nur nach Essen und sauberem Wasser.
Sondern nach Bildung, Gesundheit und  Gerechtigkeit.
Nach Menschenwürde. 
Die sich das alles erhoffen
weil sie
in ihrer Heimat
keinen Tisch wie diesen haben.
Die dafür sogar ihr Leben riskieren
auf dem Wasser.
Weil sie glauben:
Nächstes Jahr in Europa.


Innerer Tisch  

5 sind geladen,
10 sind gekommen,
gieß Wasser zur Suppe,
heiß alle willkommen.

Wer gehört an meinen Tisch?
Wer hat das Recht, dort Platz zu nehmen?
Mit wem teile ich mein Leben?
Mein Essen, mein Geld,
das Sozialsystem und
die Luft zum Atmen?
Mit wem teile ich Freude und Schmerz?

Für wen gieße ich Wasser zur Suppe
und fülle um in den größeren Kochtopf -
und das alles im Vertrauen,
dass es gut ist, wie es ist?
Für wen?

Wem gestatte ich zu sagen:
Ich bin zu Hause.
Hier bin ich richtig.
Und an alles ist gedacht.
Und man wird erwartet.
Und der Tisch ist gedeckt.

Irgendjemand hat mal gesagt:
Die, die da sind, sind die richtigen.
Und ich glaube,
Jesus hätte das auch so gesagt.
Amen.