Sonntag, 13. März 2022

"Ich werde das Träumen nicht aufgeben!"


Gottesdienst
zum Kino in der Eusebiuskirche 
am 13. März 2022 

Predigt zum Film
"Mein Blind Date mit dem Leben" und
Psalm 126

I.                   Traum 

Haben Sie, habt ihr einen Traum?
Welcher Traum hat sich bereits erfüllt?
Gibt es einen Traum,
von dem Sie sich verabschieden mussten?

Ich bin mir sicher:
Wir alle haben Antworten auf diese Fragen.
Jede einzelne Person,
die heute hier in dieser Kirche sitzt,
kennt Träume.
Große und Kleinere.
Realistische und unerreichbare Träume.
Heimliche und Unheimliche.
Ideen, die wir über unser Leben und unsere Realität hinausdenken. Die größer sind, als das, was ist.
Ideen, die manchmal Mut brauchen.
Oder Entschlossenheit.
Vielleicht auch Geld. Oder Zeit.
Oder etwas anderes, was man gerade nicht hat.
Manchmal sind es Gedanken, die man sich gar nicht traut, laut zu sagen.
Oder nur der besten Freundin.
Oder Gott.
Sie sind da. Diese Träume.  
Sie gehören zu unserem Leben dazu.
Manchmal erfüllen sie sich.

Teilweise sind sie aber auch schnell zerstört.
Lösen sich in Luft auf.
Scheinen unerreichbar und man fragt sich:
lohnt es sich überhaupt daran festzuhalten
oder gar für einen Traum zu kämpfen?     

II.                Saliyah

Saliyah hatte mal einen Traum.
Damals, als er Schüler war und noch sehen konnte.
Die Gastronomie hat es ihm angetan.
Ein eigener Laden, kochen,
eintauchen in fremde Gerüche und Geschmäcker.
Das alles war sein Traum.
Und für den lebt er.
Geht er zur Schule. Lernt er.
Bis zu dem Tag, als sich plötzlich alles verändert.
Er verliert in kürzester Zeit sein Augenlicht.
Erblindet. Sieht nur noch schemenhaft.
Es bleiben ihm 5% seines Sehvermögens.
Sein Traum scheint schon an der Schule zu scheitern.
Aber: Er gibt nicht auf.
Bleibt an der Regelschule und schafft das Abi –
wie alle anderen auch.
Damals, in den 90ern, war es noch nicht üblich,
dass Menschen mit Behinderung
eine normale Schule besuchen.
Noch weniger üblich war damals,
dass Menschen wie Saliyah
eine „normale“ Ausbildung machen.
Das alles wusste er – aber er war nicht bereit,
dafür seinen Traum zu opfern.
Entgegen allen Empfehlungen bewirbt er sich
am Hotel Bayrischer Hof.
Kämpft sich durch das Bewerbungsverfahren.
Er wird genommen und scheint
am Ziel seiner Träume zu sein.
Mich beeindruckt das.
Wieviel leichter wäre es gewesen,
einfach das Übliche zu tun?
Wieviel leichter wäre es gewesen,
den Traum aufzugeben und einfach das zu tun,
was das Leben so vorsieht?
Sonderschule? Behinderten-Werkstätte? Maximal ein Job als Hilfsarbeiter?

III.             Psalm 126

Seinen Traum Aufgeben?
Das war nicht Saliyhas Ding.
Und: auch nicht das Ding vieler Menschen vor ihm.
Manche haben ihre Träume in Worte gefasst
und so sind sie überliefert bis heute.
Auch in der Bibel.
Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird,
dann werden wir sein wie die Träumenden.
So steht es im Psalm, den wir vorhin gehört haben.
Wenn – Dann.
Das ist das Gesetz des Träumens.
Und das ist so alt, wie die Menschheit selber.
Schon immer haben Menschen geträumt von
einem besseren Leben, als das, das sie haben.
Schon immer haben Menschen geträumt von Unabhängigkeit. Von Gleichberechtigung.
Manchmal auch von einer Lösung für ein Problem.
Und vor allem:
Geträumt vom Frieden und von der Freiheit.
Das Volk Israel macht es uns in der Bibel vor.
Immer wieder macht es die Erfahrung:
Träume halten am Leben.
Träume lassen durchhalten,
auch wenn die Situation noch so schwierig ist.
Träume geben die Gewissheit: 
Egal, was jetzt ist - es ist nicht das Ende.
Auch wenn jetzt Tränen und Leid die harte Realität sind:
dabei wird es nicht bleiben.
Und schon allein deshalb hat jede Träne
das Potential zur Freudenträne.
Jede.  

 

IV.            Tränen

Tränen gesät hat auch Saliyah.
Man kann nicht sagen, dass alles reibungslos lief.
Denn: Saliyah hat sein Problem verschwiegen.
Übrigens ganze 15 Jahre lang.
Er wollte sein wie alle anderen.
Wollte keinen „Behinderten-Bonus“.
Wollte seinen Traum aus eigener Kraft
und mit eigenem Können verwirklichen.
Um das hinzubekommen hat er eines getan:
er hat schlicht nicht die ganze Wahrheit erzählt.
Er hat einfach getan, als wäre mit ihm alles in Ordnung.
Und so hat er sich öfters - im sprichwörtlichen Sinne - eine blutige Nase geholt.
Oder eben auch buchstäblich: eine blutende Hand.
Es waren viele Rückschläge.
Schlaflose Nächte. Endlose Überstunden,
Nachtschichten und erniedrigende Situationen.
Ich weiß nicht, wie oft er aufgeben wollte.
Sein eiserner Wille und eiserne Disziplin
ließen ihn alle Handgriffe auswendig lernen.
Hartnäckiges Üben verhalf ihm  
letztendlich zur nötigen Sicherheit im Alltag.

Und dann war da noch ein wichtiger Faktor:
Max. Mit-Azubi von der ersten Stunde an.
Einer, der zwar nicht den großen Traum teilt,
der aber zwei gesunde Augen hat und etwas sieht.
Auch Saliyahs Probleme.
Max merkt sehr früh,
dass mit Saliyah etwas nicht stimmt.
Aber er hält dicht und spielt das Spiel mit.
Max hilft, haut ihn raus, wenn Saliyah auffliegen könnte.
Er wird Saliyah zum Freund und
zum Komplizen seines Traumes.

Ich wage zu vermuten,
dass Saliyah es ohne Max nicht geschafft hätte.
Nur aus eigener Kraft wäre er,
und ich neige eher nicht zum Schwarzmalen, gescheitert.
Vielleicht hätte sich eine andere Lösung ergeben.
Vielleicht hätte Saliyah sich geoutet.
Oder er hätte andere Hilfe bekommen.
Vielleicht wäre auch Aufgeben irgendwann gar nicht mehr schlimm gewesen.
Aber ohne Max wäre Saliyah gescheitert.
Und sein Traum mit ihm.
Wie gut, dass es Menschen wie Max gibt.

 

V.               Ernten

Ich glaube, und da sind wir uns bestimmt einig,
dass es durchaus Träume gibt, die in Erfüllung gehen.
Und dass es Träume gibt, die anders in Erfüllung gehen, als gedacht.
Und Träume, die nicht in Erfüllung gehen, die gibt es auch. Ja. Viele sogar.

Es ist dieser Weg dazwischen,
der Kraft kostet.
Schweiß und Tränen.
Bis zu dem Tag
als Saliyah seine Prüfung bestanden hatte.
Erst dann war es geschafft.
Bis dahin: viele Tränen, die gesät wurden.
Ohne zu wissen, ob jemals eine freudige Ernte
eingebracht werden kann.
Bis dahin hartes Üben, Fehler machen,
Missgeschicke vertuschen  -
ohne zu wissen, ob der Traum vom eigenen Laden jemals Wirklichkeit wird.
Vielleicht wäre Saliyah manches Leid und manche Erniedrigung erspart geblieben,
wenn er aufgegeben hätte.
Aber wäre Aufgeben richtig gewesen?

 

VI.             Widerstand

Ich glaube: Nein.
Berthold Brecht ist der Satz zugeschrieben:
„Wer kämpft, kann verlieren.
Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“
Das gilt auch für Träume.
Wer nicht für seinen Traum kämpft,
wird ihn nicht erreichen. 
Und wer nicht vorwärts geht,
lässt sich festlegen auf die eigenen Grenzen.
Im Psalm heißt es:
Wenn der Herr einst
die GEFANGENEN Zions erlösen wird,
so werden wir sein wie die Träumenden.

Sind wir nicht alle ein bisschen gefangen?
Gefangen in unserem begrenzten Denken?
Gefangen im Alltag, in Erwartungen und Notwendigkeiten. In Verpflichtungen.
Oft sind es nicht die großen Dinge, die uns lahmlegen und ausbremsen, die uns gefangen nehmen.

Wer einen Traum hat, sieht über Grenzen hinaus.
Wer einen Traum hat, ist frei.
Wer einen Traum hat, denkt groß und weit.
Und so wissen wir auch von anderen,
dass ein Traum der Beginn von etwas Großem war.
Ich denke an Martin Luther King,
dessen Traum von Gleichberechtigung der Beginn der größten amerikanischen Freiheitsbewegung war.
Wir wissen von Menschen,
die das KZ deshalb überlebten
und nicht seelisch darin zugrunde gingen,
weil sie Lieder von der Freiheit sangen.
Wir kennen die biblische Geschichte von Josef, der als Sklave verkauft war und dessen Träumerei half, ein ganzes Sozialsystem zu erhalten.
Und heute denke ich auch an die Menschen
in der Ukraine, die den Traum
der Freiheit und der Demokratie träumen.
Und auch an die Menschen in Russland, die gegen das Regime auf die Straße gehen, weil sie verstanden haben, dass Freiheit anders geht als das, was man ihnen versucht, vorzugaukeln.
Sie alle holen sich dabei nicht nur eine blutige Nase, sondern riskieren ihr Leben.
Aber Aufgeben kommt nicht in Frage.

Die Geschichte zeigt uns:
Ein Traum ist immer schon ein Stück Wirklichkeit.
Auch wenn sie von außen noch nicht sichtbar ist.
Ein Traum ist Realität, einfach nur deshalb, weil er geträumt wird.
Weil Menschen träumen,
verändert sich Denken und Handeln.
Der Weg dorthin läuft selten ohne Widerstände.  
Wer träumt, riskiert viel.
Aber wer träumt, bekommt auch - oft - viel.
Wer nicht träumt, bekommt gar nichts
und tritt auf der Stelle.

Und deshalb glaube ich:
Ohne Träume wären wir Menschen
gar nicht in der Lage, zu überleben.
Träume erhalten uns am Leben.
Sie sind der innere Motor,
der vor dem Stillstand bewahrt.

 

VII.         Abspann

Relativ am Ende des Films sieht es so aus,
als ob Saliyah alles um die Ohren fliegt
und das ganz Projekt scheitert.
Es ist alles aufgeflogen.
Er muss sich entschuldigen.
Aber er bittet Herrn Kleinschmidt trotzdem darum,
die Ausbildung abschließen zu dürfen.
Da sagt er:
„Ich werde das Träumen nicht aufgeben. Niemals.“
Er ist entschlossen,
weil er weiß, was auf dem Spiel steht.
Für Saliyah hat es sich gelohnt.
Am Ende hat er mit Max zusammen
sogar seinen eigenen Laden.  
Aber das war längst nicht alles.
Saliyah hat weiter gemacht.
Weiter geträumt.
Wurde weit zurückgeworfen und wurde krank.
Hat weiter geträumt, gekämpft und viel erreicht.
Bis heute.

Er ist damit in bester Gesellschaft.
Mit denen, die damals schon diesen Psalm beteten.
Aber auch mit uns.
Denn wir dürfen diese Worte auch für uns sprechen:
Wenn der HERR uns
aus unseren kleinen und großen
Gefangenschaften erlösen wird,
so werden wir sein wie die Träumenden. 
Dann wird unser Mund voll Lachens
und unsre Zunge voll Rühmens sein.
Da wird man sagen
in unserer Familie,
im Freundeskreis
und die Straße rauf und runter:
Der HERR hat Großes an ihnen getan!  
Der HERR hat Großes an uns getan;
des sind wir fröhlich. Amen.