Freitag, 30. Dezember 2022

Ökosystem Himmelreich 2022

Gottesdienst
in der Jakobskirche Bodelshofen
am 31.12.2022

Rö 8,31b-39 / Mt 13, 24-30

Leben: Monokultur oder
biologisch-dynamischer Ackerbau?
Ein Rückblick
auf das Ökosystem
„Himmelreich 2022“



Das Gleichnis vom Unkraut zwischen dem Weizen

Jesus erzählte der Volksmenge noch ein weiteres Gleichnis:
»Mit dem Himmelreich ist es wie bei einem Bauern,
der auf seinen Acker guten Samen aussäte. Als alle schliefen, kam sein Feind.
Er säte Unkraut zwischen den Weizen und verschwand wieder.
Der Weizen wuchs hoch und setzte Ähren an.
Da war auch das Unkraut zwischen dem Weizen zu erkennen.
Die Feldarbeiter gingen zum Bauern und fragten ihn:
›Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät?
Woher kommt dann das Unkraut auf dem Feld?‹
Er antwortete: ›Das hat mein Feind getan.‹
Die Arbeiter sagten zu ihm:
›Willst du, dass wir auf das Feld gehen und das Unkraut ausreißen?
‹ Aber er antwortete: ›Tut das nicht, sonst reißt ihr
zusammen mit dem Unkraut auch den Weizen aus!
Lasst beides bis zur Ernte wachsen.
Dann werde ich den Erntearbeitern sagen:
Sammelt zuerst das Unkraut ein!
Bindet es zu Bündeln zusammen, damit es verbrannt werden kann.
Aber den Weizen bringt in meine Scheune.‹«
(Matthäus 13,24-30)


I.                   Himmelreich 2022

Es war einmal das Jahr 2022.
Und mit dem Jahr 2022 ist es wie mit dem Himmelreich.  
Und ich bin Teil davon – und mein Leben auch.
Und ihr seid Teil davon – und euer Leben auch.  
Und das Leben aller anderen auch.
Es war einmal
das Himmelreich 2022.
Von dem Jesus spricht, als sei es ein Acker,
der im letzten Jahr bewirtschaftet wurde:
gepflügt und umgegraben und gedüngt.
Es wurde gesät.
Um Regen gebeten und von Hand gegossen,
weil Regen lange ausblieb.
Gewartet wurde auch, teils lange und viel
bis die ersten grünen Spitzen
durch die krümelige Erde brechen.
Und wieder wurde gedüngt. Gehackt.
Auf Sonne gewartet und auf den Regen.
Gebangt und gehofft wurde nach Starkregen und Hagel
dass aufersteht, was niedergedrückt war.
Gewachsen ist Jahr und Himmelreich.
Weizen und Unkraut.
Gutes und Böses.
Hilfreiches und Schweres.

Mit dem Himmelreich aber ist es
wie bei einem Bauern,
der auf seinen Acker guten Samen aussäte.   

 

II.                Weizen

Gute Samen, und sie sind gewachsen
und groß geworden im letzten Jahr.
Im Himmelreich 2022 wurde geliebt,
umarmt und geküsst.
Lieblingsmenschen wurden sehnlichst erwartet
und neue Menschen geboren.
Neuanfänge und Versöhnungen wurden gefeiert
und alte Zöpfe erleichtert abgeschnitten.
Viele schöne Stunden wurden wahr
in diesem Himmelreich 
mit Wein und Abendrot
mit Musik und Tanz
und Lachen
und mit dem Duft von frisch gebackenem Brot.
Erfolge wurden gefeiert
mit Konfetti und
Sprühnebel von Champagner in der Luft.
Neue Häuser und Wohnungen wurden gefunden
und es wurde vor Erleichterung tief durchgeatmet.
Denn da wurde nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern Heimat.
Schutzengel waren unterwegs. Viele.
Und Freunde waren da.
Der blühende Kirschbaum.
Hoffnung.
Und das Lachen der Kinder auf der Schaukel.

Der Weizen aber wuchs hoch und setzte Ähren an
im Himmelreich 2022. 

III.             Unkraut  

Als alle schliefen, kam der Feind.
Er säte Unkraut zwischen den Weizen
und verschwand wieder.
Da war auch das Unkraut zwischen dem Weizen zu erkennen.
 

Unkraut 2022.
Der Streit mit den Nachbarn, Corona,
Querdenker-Diskussionen am eigenen Küchentisch
und die miese Laune des Mitbewohners.
Die überfahrene Katze.
Trennung und Depression.
Einsamkeit.  
Rote Zahlen auf dem Konto.
Krebsdiagnose, Beinbruch
und Kopfschmerzen vom Stress. 
Der Verlust der Arbeit,
ein falscher Aktienkauf,
der Unfall des Freundes.
Krieg in Europa.
Schlaflose Nächte aus Sorge vor Strom- und Gasrechnungen.
Ertrunkene Geflüchtete im Mittelmeer.
Waldbrände in Brandenburg.
Der Tod von Hagrid und der Queen,
Vivian Westwood und Pelé.
Und heute früh auch noch der Papst. 
Explodierte Gaspipelines,
eine Ehrenrunde in Klasse 10 und
die Delle im Auto inklusive Fahrerflucht.
Eine rechtspopulistischen Regierung in Italien,
die Übernahme von Twitter durch Elon Musk
und die Magen-Darm-Grippe
pünktlich zu Weihnachten auch.

Die Feldarbeiter gingen zum Bauern und fragten ihn:
„Herr hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät?
Woher kommt dann das Unkraut auf dem Feld?“
Er antwortete: „Das hat mein Feind getan.“
 

IV.            Monokultur


Wo Weizen gesät ist, soll Weizen geerntet werden.
Deshalb wäre es doch viel besser,
wenn da nur Weizen wachsen würde.
Keine Schlingpflanzen, kein Löwenzahn.
Und vor allem: keine Disteln.
Nur Weizen. Das macht am wenigsten Arbeit.
Nichts aussortieren müssen. Nur Ernten.
Nur das Leben genießen.
Keine Verunreinigungen, die den Ertrag schmälern
und den Marktwert der Ernte senken.
Weizen als Monokultur - und alles ist gut.
Kein Unkraut, keine nervige Zusatzarbeit,
keine Energieverschwendung.
Volle Ertragseffizienz in Sachen perfektes Leben:
Ach Bauer, das wär doch
das perfekte Himmelreich 2022 gewesen.
Und das wäre es auch für
das Himmelreich 2023 und alle,
die da noch kommen.
Die Feldarbeiter fragten ihn:

„Willst du, dass wir auf das Feld gehen und das Unkraut ausreißen?“
Aber er antwortete:
„Tut das nicht, sonst reißt ihr zusammen mit dem Unkraut auch den Weizen aus!
Lasst beides bis zur Ernte wachsen!“

 

V.               Biologisch-dynamischer Ackerbau

Unkraut im Weizenfeld macht Landwirten Mühe.
Acker-Fuchsschwanz und Quecke,
Vogelmiere und Feld-Rittersporn –
all das gehört da nicht hin.

„Lasst beides bis zur Ernte wachsen!“

Vor meinem inneren Auge
sehe ich meine Oma Gretel auf Löwenzahnjagd.
Niemals hätte sie den stehen lassen,
bis der Wind die Schirmchen alle verteilt hat!
Niemals!

„Tut das nicht, sonst reißt ihr zusammen mit dem Unkraut auch den Weizen aus!
Lasst beides bis zur Ernte wachsen!“ 

Die Zeiten von „Round Up“ und
großangelegtem Kampf gegen das Böse
sind zumindest in der Landwirtschaft vorbei.
Man hat verstanden,
dass das Gute mit darunter leidet,
wenn man das Böse vernichtet.
Man hat genug Erfahrung, um zu sehen:
manches Unkraut ist zwar lästig.
Aber es sorgt dafür, dass sich der Boden lockert
und somit der Weizen besser wächst.
Und man weiß: wenn man geschickt kombiniert,
und Fruchtfolgen beim Anbau beachtet,
dann nimmt das Unkraut nicht überhand.

Lasst beides bis zur Ernte wachsen!

In der Landwirtschaft und im Leben
gehört beides zusammen:
Unkraut und Weizen.
Schwieriges und Schönes.
Tiefen und Höhen.
Und im Himmelreich auch.
Denn das eine gibt es
ohne das andere nicht.

VI.            Ökosystem Himmelreich

Das Himmelreich gleicht einem Ökosystem
und mein Leben auch.
Und das Jahr 2022
und all die Jahre die noch kommen.  
Da war
und wird sein
Böses und Gutes.
Hässliches und Schönes.
Unkraut und Weizen.

Nie das eine ohne das andere.
Am Ende wird Jesus sagen:

Sammelt zuerst das Unkraut ein!
Bindet es zu Bündeln zusammen,
damit es verbrannt werden kann.
Aber den Weizen bringt in meine Scheune.

Es ist nicht außer Kontrolle, das Unkraut.
Es wird auch nicht eingelagert
und niemand wird davon zehren.
In die Scheune kommt nur der Weizen -
aber erst am Ende
und nicht schon jetzt.

Bis dahin sind wir Feldarbeiter*innen.
Feldarbeiter*innen, die klarkommen müssen
mit dem, was da wächst -
Unkraut UND Weizen.

Feldarbeiter*innen,
die eines verstanden haben:
Unkraut gibt es nur,
weil es auch den Weizen gibt.
Und auch wenn das Unkraut
manchmal wuchert:
Am Ende bleibt der Weizen.  

Wir sind Feldarbeiter*innen,
die hacken und gießen,
und hegen und pflegen
den himmlischen Acker,
unser Leben.

Wir sind Feldarbeiter*innen
im Himmelreich
und sind gewiss,
dass weder Tod noch Leben,
noch Engel noch Mächte noch Gewalten,
weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges
weder Hohes noch Tiefes
noch irgendein anderes Unkraut
uns scheiden kann
von der Liebe Gottes,
die in Christus Jesus ist,
unserm Herrn.

Amen.

Sonntag, 11. Dezember 2022

The Christmas Way - oder: Wann ist man zu alt für einen Adventskalender?

(Foto: pixabay) 

Gottesdienst mit dem Pop-Gospel-Chor 

am 11. Dezember 2022 / 3. Advent 
Eusebiuskirche Wendlingen am Neckar

 »Tröstet, tröstet mein Volk!«, spricht euer Gott.
Redet herzlich mit Jerusalem, sagt über die Stadt:
»Ihre Leidenszeit ist zu Ende, ihre Schuld ist restlos abgezahlt.
Denn für all ihre Vergehen wurde sie vom Herrn doppelt bestraft.«
Eine Stimme ruft: »Bahnt in der Wüste einen Weg für den Herrn!
Ebnet unserem Gott in der Steppe eine Straße!
Alle Täler sollen aufgefüllt werden, Berge und Hügel abgetragen.
Das wellige Gelände soll eben werden und das hügelige Land flach.
Der Herr wird in seiner Herrlichkeit erscheinen,
alle Menschen miteinander werden es sehen.
Denn der Herr selbst hat es gesagt.«
Eine Stimme spricht: »Verkünde!«
Ich fragte: »Was soll ich verkünden?
Alle Menschen sind doch wie Gras.
In ihrer ganzen Schönheit gleichen sie den Blumen auf dem Feld.
Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, wenn der Wind des Herrn darüberweht.
Nichts als Gras ist das Volk!«
»Ja, das Gras verdorrt, die Blume verwelkt,
aber das Wort unseres Gottes bleibt für alle Zeit.«
Steig auf einen hohen Berg, du Freudenbotin für die Stadt Zion!
Verkünde deine Botschaft mit kraftvoller Stimme,
du Freudenbotin für Jerusalem!
Verkünde sie, hab keine Angst!
Sprich zu den Städten Judas: »Seht, da kommt euer Gott!
Seht, Gott, der Herr!
Er kommt mit aller Macht und herrscht mit starker Hand.
Seht, mit ihm kommt sein Volk! Die er befreit hat, ziehen vor ihm her.
Wie ein Hirte weidet er seine Herde:
Die Lämmer nimmt er auf seinen Arm
und trägt sie an seiner Brust. Die Muttertiere führt er sicher.«

Jesaja 40,1-11 (Basisbibel)


I.                   Frage

Wann ist man eigentlich zu alt für einen Adventskalender?
Eine Freundin schrieb
kurz vor dem ersten Advent im Chat:
„Das war zum letzten Mal. Irgendwann ist mal gut.“
Gerade eben hatte sie die Adventskalender für ihre drei inzwischen erwachsenen Kinder losgeschickt.
Hm. Knallhart. Zack. Kein Adventskalender mehr.
„Irgendwann ist mal gut“.
Nicht nur in mir regte sich Widerstand
und ich stelle mir die Frage:
Wann ist es tatsächlich gut mit dem Warten?
Und wann arrangiert man sich so sehr mit dem, was ist,
dass man darauf verzichtet,
was beim Warten hilft? 

II.                Israel

Gewartet haben auch die Menschen,
an die Worte im Buch Jesaja gerichtet waren.
Im Lauf der Jahrhunderte
waren sie das Warten gewohnt,
die Menschen aus dem Volk Israel.
In Babylon gefangengenommen
wurden ihre Vorfahren.

Inzwischen waren sie dort
sesshaft geworden.
Eigentlich fühlt sich alle normal an.
Sie kannten ja nichts anderes –
außer die Erzählungen ihrer Vorfahren.  
Jede Generation hat der nächsten davon erzählt,
was das Volk erlebt hat -
und dass einmal alles wieder anders wird.
Weil Gott es versprochen hat.
Und weil einer kommt, der das Volk befreit.

Sie warten aus Überzeugung.
Weil Gott immer wieder Menschen geschickt hat,
die von diesem Versprechen erzählt haben.
Ob es sich jemals erfüllt?


III.             Warten

Wenn das Warten lang wird,
ist es gut, wenn einer kommt.
Ein Adventskalender, mit Türchen.
Für jeden Tag eins.
Ein Zeitvertreib:
eine Strickliesel für den wärmenden Schal.
Etwas Schönes: der selbstgebackene Tannenbaum
aus Salzteig. Mit Goldglitzer.
Etwas Leckeres: eine Praline mit Whisky und Meersalz.
Das erinnert an Urlaub.
Eine Bastelidee: ein Stern,
um anderen eine Freude zu machen.
Ein Hoffnungstext. Ein Herzensbild. Ein Glitzerengel.

Wenn das Warten lang wird, ist es gut,
wenn einer kommt.
Ein Hoffnungsmensch, der weitersieht.
Weiter sieht als den nächsten Tag ‚
oder die nächste Woche.
Weiter als die Zeit vom 1. Dezember bis Weihnachten. 
Ein Prophet, der die Zeit überblickt und vertreibt.
Einer mit glitzernden Worten
und Hoffnung die ansteckt.
Ein Wartender unter Wartenden.
Aber keiner, der ungeduldig mit den Füßen scharrt.
Es muss einer sein, der weiß: Warten lohnt sich.
Von ihm erzählt das Jesajabuch,
in der Schriftlesung haben wir davon gehört.
Dieser Hoffnungsmensch weiß, was man tun muss,
damit das Warten nicht vergeblich ist.
Und gewissermaßen öffnet er Türchen.
Türchen, die bis heute Wartende unterstützen. 
Es sind alles Imperative. Befehle.
Aufforderungen, etwas zu tun.
Sich nicht nur seinem Schicksal zu ergeben,
sondern das Warten aktiv zu gestalten.

Das erste Türchen:

 

IV.            Tröstet!

Tröstet, tröstet mein Volk! Spricht euer Gott.
Tröstet! Ist es Zufall,
dass diese Aufforderung die Erste ist?
Tröstet! Verteilt Taschentücher!
Nehmt Menschen in den Arm!
Seid bei denen, die das Leben nicht aushalten!
Tröstet!
Hört der jungen Frau zu,
die mit Weihnachten einfach nichts anfangen kann.
Sie ist allein gelassen und hat niemanden mehr -
nur noch das Grab der Mutter auf dem Friedhof.
Tröstet!
Nehmt die an der Hand,
die ohne ihr Hab und Gut geflüchtet sind
und jetzt hier neu anfangen müssen.
Deren Erinnerungen an friedvolle Zeiten alles ist,
was sie aus der Heimat mitnehmen konnten.
Tröstet!

Das Zweite Türchen:

V.                Redet!

Redet herzlich mit Jerusalem.
Redet! Und das sogar herzlich!
Also: teilt anderen mit, was auch auf dem Herzen liegt.
Redet - und schweigt euch nicht an.
Redet – und geht nicht davon aus,
dass alle automatisch riechen, was dran ist.
Sagt den Menschen, was euch bewegt.
Was euch umtreibt.
Das schafft Beziehung.
Und es kann den Blick
auf die Dinge und Umstände verändern.
Redet mit dem Bruder,
dem ihr lieber aus dem Weg geht.
Redet mit dem komischen Kauz aus dem 4. Stock
oder der Frau von der Parkbank
mit ihrem zotteligen Hund.
Redet!
Redet mit der einsamen Witwe von nebenan,
die niemanden zum Austausch hat.
Redet mit dem 12jährigen,
der gedankenverloren durch die Straßen zieht
und nicht weiß, was ihn zu Hause erwartet.  
Und auch wenn es sich fast überflüssig anhört:
redet mit den Menschen, die ihr lieb habt
und die euch nahe stehen.
Beziehungen sterben,
weil Menschen nicht miteinander reden,
sondern nebeneinanderherwarten.  
Deshalb: Redet!

Das dritte Tüchen:
 

VI.            Bahnt!

Bahnt in der Wüste einen Weg für den Herrn!
Bahnt!  Schlagt eine Schneise!
Sorgt dafür, dass Hindernisse
aus dem Weg geräumt werden!
Bereitet euch darauf vor,
dass jemand kommt.
Da geht es ganz konkret um Advent.
Gott kommt – und braucht Platz.
Bahnt Wege durch euren Alltag,
eure Wüsten!
Schaufelt euch frei
von Terminen und Verpflichtungen.
Sie sind zwar wichtig, aber nicht das Wichtigste!
Nehmt euch Zeit für das, was euch hilft
zu glauben, zu hoffen und zu lieben.
Erzählt euch Geschichten
und singt Hoffnungslieder.
Stellt Kerzen ins Fenster und vor die Tür.
Hört laut das Weihnachtsoratorium
und lasst das Haus duften
nach Vanillekipferl und dem Räuchermännchen
aus dem letzten Urlaub.
Verheddert euch in Lichterketten
und faltet mit euren Enkeln transparente Fenstersterne.
Sie beleuchten euren inneren Weg an die Krippe
in bunten Farben.
Bahnt eine Lichtspur durch die Winterwüste,
durch diese Stadt.
Bis zur Krippe im kalten Stall.

Das vierte Türchen:

 

VII.         Verkündige!

Eine Stimme spricht: „Verkündige!“
Ich fragte: „Was soll ich verkündigen?“
Und die Stimme spricht: „Das Gras verwelkt, die Blume verdorrt, aber das Wort unseres Gottes bleibt für alle Zeit.“
Verkündige!
Erzähl weiter vom Wort Gottes!
Lebe das Wort Gottes!
Nimm den Auftrag an!
Man muss nicht die Diakonin oder Pfarrer sein
um von der Hoffnung zu reden.
Mann muss nicht Sozialarbeiterin sein,
um Menschen spüren zu lassen,
dass sie geliebt sind.
Man muss nicht rhetorisch perfekt sein,
um Menschen zu zeigen,
dass sie eine Würde haben.
Verkündige!
Das tut auch, wer bei Carisatt hinter der Kasse steht,
im WeRT-Team hilft, Formulare auszufüllen
oder als Dolmetscherin mit zu Behörden geht.
Verkündige!
Das tut, wer Kaffee kocht und Socken strickt,
Sterbende begleitet und
Menschen im Gefängnis besucht.
Verkündige! 
Das sind nicht nur Worte sondern auch Taten,
mit denen Gottes Liebe
ihren Weg in diese Welt findet.

Das fünfte Türchen:

 

VIII.       Steig!

Steig auf einen hohen Berg, du Freudenbotin für die Stadt Zion!
Steig!
Vielleicht ist der Weg mühevoll und mit Arbeit verbunden,
aber er lohnt sich!
Steig auf den Berg!
Mache dich – und vor allem deine Botschaft - sichtbar!
Diese Botschaft ist es wert, gehört zu werden!
Wer seine Hoffnung hinter verschlossenen Türen lässt,
bleibt mit ihr allein. 
Wer seine Hoffnung und seine Freude mit anderen teilt,
kann darüber staunen,
wie sie wächst und andere ansteckt.
Mit den kirchenmusikalischen Veranstaltungen
in dieser Adventszeit steigt ihr Sänger*innen
auf den Berg.
Viele Familien tun es,
in dem sie ein Adventskalendertürchen öffnen
beim lebendigen Adventskalender.
Unsere Marktkirche beim Weihnachtsmarkt
war nicht nur ein Berg an Arbeit,
sondern auch das Sichtbarwerden dieser Botschaft
in unserer Stadt. 
Deshalb: Steigt! Und macht euch sichtbar!
Das letzte Türchen:

 

IX.             Seht!

Seht, da kommt euer Gott!  
Seht!
Das ist das Ende allen Wartens. 
Seht! Da liegt dieser Gott im Stall.
Als heruntergekommener Gott.
Einer von euch.
Gar nicht der göttliche Auftritt, der erwartet wurde
mit viel BlingBling und rotem Teppich.  
Ein Gott, den man leicht übersehen kann.
Wer achtet schon auf ein Baby?
Darauf muss man schon aufmerksam gemacht werden.
Deshalb: Seht! DA kommt euer Gott.
Deshalb ist gut, dass wir Weihnachten feiern.
Jedes Jahr wieder.
Dass wir lernen, hinzuschauen.
Gott tatsächlich wahrzunehmen.
Mich erinnert das an die Adventsgeschichte
vom Heiligen Erwin.
Gott hat beschlossen,
einmal wieder zur Welt zu kommen,
um nach dem Rechten zu sehen.
Aber nicht als kleines Kind –
die Nummer hat sich inzwischen rumgesprochen.
Gott kommt als Obdachloser zur Welt.
In Köln.
Als Erwin.
Und er macht so seine Erfahrungen mit den Menschen,
die so gar nicht blicken, wer er ist.
Aber dann und wann staunen
und ihn wundersam finden.
Wie oft über-sehe ich Gott?
Wie oft nehme ich gar nicht wahr, dass er da ist?
Wie oft bringe ich Dinge gar nicht mit ihm in Verbindung?
Wie oft ist das Versöhnungs-Bier das Selbstverständlichste der Welt und die Geduld und Nachsicht unserer Mitmenschen auch?
Seht! Auch da ist euer Gott!

X.                Macht hoch die Tür

Zurück zum Anfang:
Die Frage war:
Wann ist man zu alt für einen Adventskalender?
Das Volk Israel hat auch noch nach 500 Jahren
einen gebraucht, der beim Warten hilft,
um die Zeit gut zu nutzen, die noch bleibt.
Zu alt für einen Adventkalender ist man deshalb nie.
Aber vielleicht ändert sich
im Laufe der Jahre die Bedeutung.
Der Inhalt selbst, die kleinen Geschenke,
Bilder, Rätsel und Geschichten sind großartig
und das Freuen auf den nächsten Tag
und die nächste Überraschung
eine zutiefst menschliche Erfahrung.
Aber möglicherweise wächst im Lauf des Lebens
auch der Blick darüber hinaus.
Hoffnung verändert.
Und dann wird aus dem Hoffen und Glauben
ein Tun:  
Es wird daraus ein Trösten und Reden.
Es wird daraus das Bahnen eines Weges,
ein Verkündigen, ein Steigen auf den Berg
und schließlich ein Sehen.
Ein Sehen, dass Gott schon da ist -
und die Tür offen.
In dieser Welt.

Und, so sangen es die Engel,
bei allen Menschen seines Wohlgefallens.
Amen. 

Sonntag, 18. September 2022

"Vergib uns unsere Schuld..."

Predigt zum Film 

Three Billboards
Outside Ebbing, Missouri
am 18. September 2022 
im JohannesForum


I. Verwundet

Eine skurrile Begegnung im Krankenhaus.
zwei verletzte Männer in einem Zimmer.
Zufällig zugeteilt: Red Wilby und Jason Dixon.
Der eine liegt dort, weil er die umstrittenen Billboards an Mildred Hayes vermietete. Dafür wurde er von Officer Dixon voller Wut aus dem Fenster geworfen.
Und der andere wird dazu geschoben, weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war und Mildred Hayes Rache nicht mehr entgehen konnte:
Der Fluchtweg war für Jason Dixon versperrt und er musste sich aus dem brennenden Police Departement
mit einem Sprung durch die Flammen retten.

Es ist viel passiert,
bis die beiden sich im Krankenhaus begegnen.
Aber nun sind sie hier gelandet:
Verletzt. Verbrannt. Verwundet.
Verwundet an Leib und Seele.
Aber: man(n) kennt sich.
Man er-kennt sich.
Trotz aller Beulen und Nähte und Verbände.


II. Rückschau

Was bisher passiert ist:
Mildred Hayes Tochter wurde Opfer eines Gewaltverbrechens.
Weil sie sich von der Polizei im Stich gelassen fühlt, macht sich daran,
den Täter selbst ausfindig zu machen und die Tat zu sühnen.
Dazu sucht sie ihren eigenen Weg, um mit ihrer Geschichte
an die Öffentlichkeit zu gehen:
Sie mietet drei „Billboards“, Plakatwände am Straßenrand,
und bestückt sie mit Schriftzügen.

In großen schwarzen Buchstaben auf rotem Grund sind dort die Sätze zu lesen:
„Raped While Dying“ („Vergewaltigt, als sie im Sterben lag“)
„Still No Arrests?“ („Und noch keine Verhaftungen?“)
„How come, Chief Willoughby?“ („Wie kommt das, Chief Willoughby?“)
Ja, sie spricht den Chief Inspector namentlich an
und macht ihn persönlich dafür verantwortlich,
dass das Verbrechen an Angela Hayes bislang nicht aufgeklärt wurde.
Dieser müht sich, erklärt sich und tut, was er kann,
aber es ist hoffnungslos. Der Täter wird nicht gefunden.
Officer Jason Dixon soll Chief Willoughby dabei unterstützen, 
allerdings arbeitet der sich derweil an der afroamerikanischen Bevölkerung ab
und schikaniert diese, wo er kann.
Als Willoughby sich das Leben nimmt, weil er unheilbar an Krebs erkrankt ist
und seiner Familie sein Leiden ersparen will,
macht Dixon nicht nur Mildred Hayes für seinen Tod verantwortlich.
Auch Red Wilby, den Vermieter der Billboards, will er dafür zur Rechenschaft ziehen und er wirft ihn deshalb vor Wut aus dem Fenster.
Am Tag nach Willoughbys Tod wird ein neuer, schwarzer Polizeichef eingesetzt.
Eine seiner ersten Amtshandlungen ist die Entlassung von Jason Dixon.
Als die Werbetafeln angezündet werden,
hält Mildred Hayes zunächst Jason Dixon für den Verantwortlichen.
Sie beschließt deshalb, sich an der Polizei zu rächen.
Allerdings weiß sie nicht, dass sich Dixon sich trotz seiner Suspendierung an jenem Abend alleine in der dunklen Polizeiwache aufhält,
um einen Abschiedsbrief Willoughbys an ihn zu lesen.
Weil Mildred Hayes kein Menschenleben gefährden will,
ruft sie auf der Polizeiwache an, um sicherzustellen,
dass dort niemand mehr Dienst tut.
Dixon hörte das Telefon nicht. Er hörte Musik über Kopfhörer.
Mildred zündet ihre Molotovcocktails.
Jason Dixon bemerkt das Feuer daher erst, als die Polizeiwache bereits in Flammen steht und die Fluchtwege versperrt sind.
Mit einem kühnen Sprung rettet er sein Leben – und die Akte Angela Hayes.

III. Fragen

Was würde ich tun, wenn es um meine Tochter ginge?
Was würde ich tun, wenn es mein Freund wäre,
der sich das Leben nimmt und ich den Verdacht hätte,
jemand anderes hätte ihn dazu genötigt?
Was würde ich tun, wenn ich dabei zusehen müsste,
dass Ungerechtigkeit einfach hingenommen wird?

Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht.
Eigentlich ist doch klar:
Rache macht Tote nicht wieder lebendig.
Und eigentlich ist auch klar:
Einen Täter oder eine Täterin zur Rechenschaft zu ziehen ist Sache der Polizei.
Und auch um Polizeiversagen an die Öffentlichkeit zu bringen,
gibt es rechtsstaatliche Mittel und Wege.
Selbstjustiz ist in keinem Fall vorgesehen.
Eigentlich ist das alles klar.
Und doch.
Und doch sage ich: ich weiß es nicht.
Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn es hart auf hart kommt.
Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn mein Leben so richtig versaut wird.
Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn ich so richtig fiese Rachegedanken hätte.
Ich weiß nicht, was ich tun würde wenn ich an die Grenze dessen kommen würde, was ich, was mein Herz und meine Seele, ertragen kann.

IV. Grenzerfahrungen


Menschliche Grenzen sind sehr unterschiedlich.
Und wie Menschen mit Unterträglichkeiten umgehen,
ist auch sehr unterschiedlich.

Nicht immer sind es die ganz großen Katastrophen,
die uns an den Rand bringen.
Manchmal sind es Kleinigkeiten, die das Fass zum Überlaufen bringen.
Manchmal noch nicht einmal Taten, sondern nur ein falsches Wort,
das den Impuls entfacht, für Gerechtigkeit einzustehen zu müssen.
Und manch einer schafft es auch, mit einer ganz großen Katastrophe zu leben,
ohne sich dafür zu rächen zu wollen.
Im Film wird das eindrücklich deutlich:
Sowohl Mildreds Ex-Mann und der Vater von Angela,
als auch deren Bruder Robbie wollen die Angelegenheit auf sich beruhen lassen. Mildred Hayes nicht.
Sie will alles dafür tun, damit die Tat gesühnt wird.
Ich weiß nicht, ob das richtig ist so:
Ihre Tochter kommt dadurch nicht wieder zurück.
Ich weiß nicht, ob es gerecht wäre, wenn sie den Täter erwischt -
und was wäre schon ausgleichende Gerechtigkeit
für die Vergewaltigung und den Tod ihrer Tochter?
Auch das vermag ich nicht zu beurteilen
und bleibt, zum Glück, auch im Film offen.

Was ich allerdings weiß:
diese Gedanken sind zutiefst menschlich.
Und sie stehen sogar in der Bibel:


V. Aus Psalm 58

Haltet ihr euch wirklich an die Wahrheit,
wenn ihr euer Urteil fällt, ihr Mächtigen?
Seid ihr ehrlich gegenüber den Menschen,
wenn ihr Gericht haltet?
Nein! Mit Absicht begeht ihr Verbrechen!
Eine Spur der Gewalt zieht ihr durchs Land.
Gott, zerschlag ihnen doch die Zähne im Mund!
Zerbrich das Gebiss dieser jungen Löwen, Herr!
Wie Wasser, das verrinnt, sollen sie verschwinden.
Wenn einer seinen Pfeil auf sie richtet,
sinken sie auch schon zu Boden.
Dann wird der Gerechte sich freuen.
Denn er schaut zu, wenn Gott Vergeltung übt.
Er badet seine Füße im Blut des Frevlers.
Und die Menschen werden sagen:
»Ja, es lohnt sich, Gerechtigkeit zu üben!
Ja, es gibt einen Gott,
der jeden im Land zur Rechenschaft zieht!«

VI. Vergeltungssehnsucht

Es sind harte Worte, die da einer betet.
Die Sehnsucht nach Vergeltung ist groß.
Im Vergleich zum Film gibt es aber einen entscheidenden Unterschied:
Der Psalmbeter richtet seine Wut und seinen Zorn an Gott.
„Gott, zerschlag ihm doch die Zähne im Mund.“
Es könnte ein Gebet von Jason Dixon sein
in seiner Wut auf Rob Welby, den er allerdings selbst vermöbelt
und zum Fenster hinausbefördert.

„Ja, es gibt einen Gott, der jeden im Land zur Rechenschaft zieht –
auch den Mörder meiner Tochter!“
könnte ein Gebet von Mildred Hayes sein –
ehe sie Plakate aufstellt oder Molotovcocktails zündet.
Im Lauf des Films wird eines immer wieder bewusst:
wer versucht, Gerechtigkeit herzustellen wird dabei auch ungerecht.
Wer sich rächt, und sei es noch so berechtigt,
wird gleichzeitig schuldig.
Nicht umsonst heißt es im Vater Unser:
„Vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“
Schuld und Vergebung ist immer ein Wechselspiel
und nie eine Einbahnstraße.

Lernen können wir hier vom Psalmbeter.
Er richtet seine Wut an Gott
und nicht direkt gegen Menschen.
Er überlässt es Gott, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Trotzdem nimmt er kein Blatt vor den Mund.
Wut und Hass, die sich direkt gegen Menschen richten,
erzeugen keine Versöhnung, sondern genau dasselbe:
Wut und Hass.
Vermutlich meint das auch Officer Willoughby
mit seinen Worten im Abschiedsbrief an Jason Dixon.
Dort steht:
„Ich weiß, dass du zu viel Wut in dir hast.
Solange du so viel Hass in die rumträgst, wirst du niemals das werden,
wovon ich weiß, dass du es gerne werden würdest: ein Detective.
Weißt du, was du brauchst, um ein Detective zu werden?
(Und ich weißt, du zuckst jetzt zusammen, wenn ich das sage)
Was man braucht, um ein Detective zu werden, ist Liebe.“

Ob es diese Worte waren, die bei Dixon eine Veränderung in Gang brachten?
Wir können es nur vermuten.
Aber in diese Filmszene, die wir vorhin gesehen haben,
könnte man so etwas wie Versöhnung hineininterpretieren.
Dixons „Es tut mir leid“ wird von Red Welby wortlos beantwortet:
er bringt ihm ein Glas Orangensaft. Mit Strohhalm.
Nimm und trink. Ich schlage nicht zurück.

VII. Finale

Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus
macht es sich Jason Dixon zur Aufgabe, den Täter für Mildred Hayes zu finden.
Eine zufällige Bar-Begegnung lässt hoffen, den Mörder gefunden zu haben.
Um an die DNA zu kommen, inszeniert er sogar eine üble Schlägerei.
Trotzdem kann der vermeintliche Täter nicht überführt werden.
Zusammen mit Mildred Hayes macht er sich am Ende des Films
dennoch auf den Weg nach Idaho – mit der Flinte im Kofferraum.
Mildred gesteht ihm unterwegs, die Polizeiwache angezündet zu haben.
„Wer sonst, zum Teufel? War doch klar!“
ist Dixons knappe, wie versöhnliche Antwort.

Und dann kommen die Zweifel.
Zweifel daran, ob es richtig ist, den Kerl um die Ecke zu bringen.
Und die Erkenntnis:
„Das können wir unterwegs ja immer noch entscheiden.“
Wie sie sich letztendlich entschieden haben, lässt der Film offen.
Wichtig erscheint mir aber an der Stelle:
Es ist eine Entscheidung.
Es ist eine Entscheidung, ob man die Dinge selbst in die Hand nimmt -
oder ob die Verantwortung abgegeben wird an die richtigen Stellen.
Und es ist letztlich eine Entscheidung und kein Zufall,
ob die Wut gewähren darf –
oder die Liebe eine Chance bekommt.
Amen.





Mittwoch, 10. August 2022

Menschenskinder!

Predigt zur Sommerpredigtreihe
"Geflügelte Worte"
im Distrikt Unterer Neckar
Reudern 07.08.2022 
Unterensingen 14.08.2022


"Menschenskinder!" 

Und er sprach zu mir:
Du Menschenkind, stelle dich auf deine Füße, so will ich mit dir reden.
Und als er so mit mir redete, kam der Geist in mich und stellte mich auf meine Füße, und ich hörte dem zu, der mit mir redete.
Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, ich sende dich zu den abtrünnigen Israeliten und zu den Völkern,
die von mir abtrünnig geworden sind.
Sie und ihre Väter haben sich bis auf diesen heutigen Tag gegen mich aufgelehnt. 
Und die Kinder, zu denen ich dich sende, haben harte Köpfe und verstockte Herzen.
Zu denen sollst du sagen: »So spricht Gott der HERR!«
Sie gehorchen oder lassen es – denn sie sind ein Haus des Widerspruchs –,
dennoch sollen sie wissen, dass ein Prophet unter ihnen gewesen ist.
Und du, Menschenkind, sollst dich vor ihnen nicht fürchten noch vor ihren Worten fürchten.
Es sind wohl widerspenstige und stachlige Dornen um dich,
und du wohnst unter Skorpionen; aber du sollst dich nicht fürchten
vor ihren Worten und dich vor ihrem Angesicht nicht entsetzen –
denn sie sind ein Haus des Widerspruchs.
(Hesekiel 2,1-6) 

I. Menschenskinder

Menschenskinder!
Man möchte es immer wieder laut sagen:
Menschenskinder, jetzt hört mir doch mal zu!
Menschenskinder, jetzt räumt doch mal auf!
Menschenskinder, bringt doch mal den Müll raus,
geht mit dem Hund gassi,
bringt Oma das Essen und vor allem:
tut, was man euch sagt.
Menschenskinder!

Kennt man – oder?

Man kann diese Reihe nahezu endlos fortsetzen. 
Und wie sich das mit halbwegs korrekt genervtem Unterton anhört,
wissen wir auch.

Es ist ein alltäglicher Begriff für viele – auch für mich –
und in aller Regel verwende ich ihn,
wenn andere nicht so funktionieren,
wie ich mir das wünsche.
Wenn andere tun, was sie wollen.
Oder unzuverlässig sind. Oder ihren Job nicht machen.
Ich verwende ihn, wenn ich von meinem Gegenüber eine Reaktion erwarte
und die ausbleibt.
Oder diese Reaktion eben anders ausfällt,
als ich mir das erhoffe.
Und es ist ein Verstärker.
Beim ersten Mal sage ich:
„Bring den Müll raus!“
Beim zweiten Mal sage ich:
„Hast du nicht gehört: Du sollst den Müll rausbringen!“
Und wenn dann immer noch nichts passiert,
dann sage ich:
„Menschenskinder, jetzt bring doch mal den Müll raus!“

Es geht also ans Eingemachte.
„Menschenskinder“ heißt:
hier will jemand 100%ige Aufmerksamkeit.

 

II. Herrlichkeit  

Seine Aufmerksamkeit war zwangsläufig hoch.
Aber kann er auch ernst nehmen, was da passiert?
Hesekiel war sich im ersten Moment
möglicherweise nicht sehr sicher,
wie er das einschätzen soll:
Eine Vision von eher wirren Phantasiegestalten
zieht ihn in den Bann.
Menschen. Stierfüße, Adlerflügel,
halbe Löwengesichter,
Glut, Kohle, Räder mit Felgen voller Augen.
Getöse, wie in einem Heerlager,
Donner. Und ein Thron, auf dem einer sitzt,
der aussieht wie ein Mensch.
Ein Mensch, der glänzt und glitzert wie ein Regenbogen. 
So war die Herrlichkeit Gottes anzusehen. 

„Ist das Kunst oder kann das weg?“
Hesekiel war zwar Priester, aber ein göttlicher Auftritt dieser Art
gehörte bis dato nicht zu seinem spirituellen Erfahrungsschatz.
Das befremdet, insbesondere deshalb,
weil ihn diese Inszenierung anspricht -
im wahrsten Sinne des Wortes.

Von Mensch zu Mensch. Ganz direkt.
Hesekiel haut das aus den Latschen.

Du Menschenkind, stelle dich auf deine Füße,
so will ich mit dir reden.
Und als er so mit mir redete,
kam der Geist in mich und stellte mich auf meine Füße,
und ich hörte dem zu, der mit mir redete.


III. Es ist ernst!

Menschenskind,
Hesekiel stelle dich auf die Füße!
Ich will mit dir reden!
Gott meint es ernst.
Grundsätzlich eigentlich zuerst mit dem Volk Israel:
Ein Volk des Widerspruchs ist das,
so tönt die Stimme Gottes
aus der dieser sichtbaren Herrlichkeit.
Wie widerspenstige Dornen und
stachlige Skorpione sei es,
mit denen man nicht gemeinsame Sache machen sollte.
Oder auch: Meckerheinies und Querdullies,
denen mal einer sagen muss, wie der Hase läuft.

Gott meint es ernst.
Auch mit Hesekiel: einem Priester,
der seines Amtes walten soll.
Der dieses widerspenstige Volk überzeugen soll.
Überzeugen von Werten, die irgendwann einmal Konsens waren
für ein friedliches Zusammenleben.
Einer, der dafür einsteht,
dass Miteinander besser ist als Gegeneinander.
Einer, der vorlebt, dass Solidarität und Menschenfreundlichkeit
wichtiger sind, als rebellische Parolen.
Einer, der zu unterscheiden hilft,
zwischen berechtigter Kritik und primitiver Hetze.
Es geht also um einen Auftrag.
Und um einen, der ihn ausführt.
Der ihn ausführt,
muss wohl auch etwas ertragen können.
Denn die Ernsthaftigkeit dieser Ansprache
war im ersten Moment verstörend:
Hesekiel strandete auf nicht erklärbare Weise
in Tel-Abib und musste dort
sieben Tage lang mit Menschen zusammenleben,
die ihm vorher völlig fremd waren.
Was sie über diesen seltsamen, verstörten Priester dachten -
und ob Hesekiel verstörter war oder die Menschen dort - wissen wir nicht.
Jedenfalls „lag die Hand des Herrn schwer auf Hesekiel“.
Ernster geht vermutlich nicht.


IV. Haltung!

Stell dich auf die Füße, ich will mit dir reden!

Wie ernst ein Gespräch – und damit auch die Botschaft - genommen wird, entscheidet sich durch Haltung.
Körperhaltung.
„Stell dich auf die Füße!“

Ob ich aufrecht vor meiner Gesprächspartnerin stehe -
oder im Sitzsack gammle, das macht einen Unterschied.
Ob ich im Schneidersitz auf dem Boden sitze - 
oder mit aufrechter Haltung am Tisch:
Körperhaltung ist entscheidend für den Gesprächsverlauf.

Ob Hesekiel mit dem Gesicht im Staub liegt -
oder Aufrecht steht und Gott in die Augen schaut,
ist keine Nebensächlichkeit.

Körperhaltung schafft Aufmerksamkeit.
Körperhaltung entscheidet über Macht oder Ohnmacht.
Über Respekt oder Gleichgültigkeit.
Körperhaltung schafft einen wahrnehmbaren Unterschied.

„Stell dich auf die Füße!“
Das heißt soviel wie:
Komm auf Augenhöhe!
Unterwirf dich nicht!
Sei mir ein Gegenüber!

Sei ein Mensch!
Sei mein Ebenbild,
das du seit dem 6. Tag der Schöpfung bist!
Und deshalb: sei mächtig!
Übernimm Verantwortung!
Aber bleib abhängig von mir, Menschenkind!
Sei Kind und lass dir einen Auftrag erteilen -
aber dann sei ganz erwachsen und mir ebenbürtig.
Und tu‘, was deine Aufgabe ist.
Mit aufrechtem Gang und beiden Beinen auf der Erde.

Körperhaltung schafft Realität.

V. Auftrag

Hesekiels Auftrag war nicht leicht.
Und ehrlich gesagt auch ein bisschen irre.
Verrückte Dinge sollte er tun. Zeichenhandlungen.
Demonstrationen, um auf sich aufmerksam zu machen
und die Botschaft verständlich.
Denn dieses Volk mit seinem Protestgehabe,
seinen Kriegereien und Eifersüchteleien
war weitestgehend mit sich selbst beschäftigt.
Eines Tages sollte Hesekiel seine Haare und
seinen Bart mit dem Schwert scheren.
Anschließend verbrannte er
ein Drittel der Haare in der Stadt.
Ein weiteres Drittel schnitt er mit dem Schwert klein
und den Rest streute er in den Wind.
Eine symbolische Handlung.
Das Volk sollte verstehen, was mit ihm passieren würde:
es würde verbrennen und im Krieg zerstört werden -
und der Rest sich in alle Windrichtungen verteilen.
Eine unangenehme Botschaft.
Überbringer*innen unangenehmer Botschaften
haben es nicht leicht.
Damals nicht und heute auch nicht.
Sie brauchen Haltung und ein Mandat.
Manchmal ist das einzige Mandat, das von Gott:

Du Menschenkind, stelle dich auf deine Füße,
so will ich mit dir reden.
Und als er so mit mir redete,
kam der Geist in mich und stellte mich auf meine Füße,
und ich hörte dem zu, der mit mir redete.
Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, ich sende dich.

 

VI. Freiheit

Wer etwas zu sagen hat,
wer ein Mandat hat,
muss mit Widerspruch rechnen.
Widerspruch ist das, was einen freien Menschen auszeichnet.
Widerspruch ist auch das, was meinem Gegenüber zusteht,
wenn ich komme und sage:
Menschenskind,
stell dich auf deine Füße und hör mir zu!
Wer etwas zu sagen hat,
hat aber auch das Recht gehört zu werden.
Das Recht, gehört zu werden mit einer Botschaft,
die auch unbequem ist - und Komfortzonen in Frage stellt.
Auch das gehört zur Freiheit des Menschseins.
Und zur Freiheit des Ebenbildseins.
Deshalb weil wir Menschen auch einander Ebenbild sind.
Und nicht nur das Ebenbild Gottes.
Und deshalb ist es so fatal, was seit Menschengedenken
immer wieder passiert: 
Das Recht, gehört zu werden, wird in Frage gestellt.
Gesagtes wird bagatellisiert und ins Lächerliche gezogen.
Menschen werden für ihre Worte öffentlich verunglimpft,
eingeschüchtert und unter Druck gesetzt.
Heute durch die Macht der Medien in einer Geschwindigkeit,
die sich zur Zeit Hesekiels noch niemand ausmalen konnte.
Hesekiel wird „nur“ festgesetzt und mundtot gemacht.
Wenn das gelingt, sprechen wir von Diktatur -
und damit vom Ende der Freiheit.

Wieviel Widerspruch und Bagatellisierung musste sich 
Greta Thunberg gefallen lassen,
als sie 2018 begann, immer freitags
auf den Klimawandel aufmerksam zu machen?
Und wie wirkt diese Bagatellisierung heute -
angesichts der derzeitigen Hitzewelle,
der Brände und des Wassermangels?
Ist Greta auch eine Prophetin?

Oder, ganz aktuell: die Ärztin Lisa-Maria Kellermayr.
Was musste sie wohl ertragen?
Sie geriet ins Kreuzfeuer von rechtsradikalen Netzterroristen,
weil sie sich öffentlich für die Impfung gegen Corona aussprach.
Der Hass und die Hetze, die über sie hereinbrach,
nötigten sie zuerst, ihren Beruf aufzugeben
und vorletzte Woche dann auch ihr Leben.

Wer Menschen das Recht abspricht, gehört zu werden,
macht sich schuldig.
Wer Menschen das Recht abspricht, gehört zu werden,
nimmt aber nicht nur dem Gegenüber
die Würde des Menschseins,
sondern auch sich selbst.
Wo Menschen einander nicht zuhören,
endet Menschlichkeit.


VII. Leben

Deshalb:
Menschenskinder!
Stellt euch auf die Füße und
schaut euch in die Augen!

Menschenskinder!
Stellt euch auf die Füße und
teilt eure Ideen und Visionen,
aber auch eure Zweifel, Ängste und eure Fragen!

Menschenskinder!
Stellt euch auf die Füße und
widersprecht einander!
Streitet um die Sache und setzt euch auseinander
mit den Unterschiedlichkeiten des Lebens!
Aber hört einander zu.
Und gebt einander das Recht, gehört zu werden.

Menschenskinder!
Stellt euch auf die Füße und
seid menschlich zueinander.
Redet davon,
was ihr von Gott gesehen verstanden habt.
Singt davon, was euch hoffen lässt.

Und hört hin.
Hört hin, wenn jemand zu euch sagt:
Du Menschenkind,
stelle dich auf deine Füße,
ich will mit dir reden!
Es könnte Gott sein.
Amen. 



Mittwoch, 13. Juli 2022

Wer wie ein Baum ist...

Predigt zum Gottesdienst im Haus Taläcker am 12. Juli 2022


Es ist ein besonderer Apfelbaum.
Er steht in Ho, einem kleinen Dorf in Dänemark. 
Und er hat es mir angetan.

Nicht weil es eine besondere Apfelsorte ist,
sondern weil seine Form besonders ist.

Im Vergleich zu den sehr geraden Bäumen,
die man im Hintergrund sieht,
ist der Apfelbaum krumm und schief.
Sogar der Stamm teilt sich in 2 dünne Stämme kurz über dem Boden –
für einen Apfelbaum ist das doch eher unüblich.
Was mag er wohl erlebt haben, dieser Apfelbaum?
Sicher haben ihm Wind und Wetter zugesetzt.
Er steht ziemlich ungeschützt an der Nordsee.
Wind und Sturm gehören dort zum Normalprogramm.  
Aber das alleine kann ihm nicht so zugesetzt haben.
Die anderen Bäume sind ja auch einigermaßen gerade gewachsen.
Er steht am Rande eines Parkplatzes.
Ob er wohl mal unsanft von einem Auto angerempelt wurde,
dass er so in die Knie ging?
Ich weiß es nicht.
Wir können tatsächlich nur raten.
Jedenfalls scheint dieser Apfelbaum
seine ganz eigene Geschichte zu haben.
Was ich daran bemerkenswert finde:
Er wuchs einfach weiter.
Dass da was nicht in Ordnung war,
hat ihn nie am Wachsen gehindert.
Er steht zwar krumm, aber sehr stabil.
Was auch immer ihm so zugesetzt hat:
Das kann nicht erst kurz vorher passiert sein.
Es muss schon lange er gewesen sein.
Aber: er wächst trotzdem.
Und: bringt Frucht.
Da hängen Äpfel dran.
So, wie es sich für einen Apfelbaum gehört.

Mich erinnert dieser Baum an einen Psalm.
In Psalm 1 heißt es:
Glücklich ist der Mensch,
der nicht dem Vorbild der Frevler folgt
und nicht den Weg der Sünder betritt.
Vielmehr freut er sich über die Weisung des Herrn.
Tag und Nacht denkt er darüber nach
und sagt Gottes Wort laut vor sich hin.
Er gleicht einem Baum,
der am Wasser gepflanzt ist.
Früchte trägt er zu seiner Zeit,
und seine Blätter welken nicht.

Wenn ich diesen Psalm früher gelesen habe,
dachte ich immer an einen großen und grünen Baum.
Fehlerfrei und makellos.
Kerzengerade in den Himmel gewachsen.
Gut, solche Bäume gibt es auch.
 Manche davon zieren eine Allee oder einen Park.
Aber oft stehen sie da nur so makellos, weil nachgeholfen wird.
Einige davon stehen an Stellen,
wo der Bauhof mit dem Wasserfass hinfahren muss, um zu gießen –
weil zu wenig Wasser da ist.
Viele Bäume werden gestutzt und in Form gebracht –
manchmal mehr als notwendig. Dass es „ordentlich“ aussieht.
Der Baum auf dem Foto sieht nicht ordentlich aus.
Er wurde vermutlich noch nie gegossen und in Form gebracht.
Was da ist und wie er ist, reicht.
Nicht zum perfekten Aussehen,
sondern zum Wachsen und Frucht bringen. 

Ein tröstlicher Gedanke.
Wenn ich auf mein Leben schaue,
dann fühle ich mich manchmal auch eher wie ein krummer Baum.
Einer über den mancher Sturm hinweggefegt ist.
Angerempelt wurde ich auch das eine oder andere Mal.
Und wahrscheinlich gab es auch
manche Entscheidung oder gar Verletzung,
die dafür gesorgt hat,
dass mein Leben ganz anders wurde,
als ich mir das vorgestellt habe.
Was bei diesem Baum dazu geführt hat,
dass sich der Stamm in zwei Hälften teilt?
Wir wissen es nicht.
Aber Erlebnisse, die schier zerreißen und nahezu
einen anderen Menschen aus uns machen,
das kennen sicher alle.
Sicher könnte jede*r eine oder mehrere Geschichten dazu erzählen.
Eine Geschichte vom Verlust eines geliebten Menschen.
Eine Geschichte vom Zerbruch in der Familie.
Eine Geschichte vom Scheitern im Beruf.
Eine Geschichte vom Betrogen werden.
Eine Geschichte von zerstörter Freundschaft.
Eine Krankheitsgeschichte oder gar einen Unfall mit großen Folgen.
Eine Geschichte vom Krieg.
Kein Mensch kommt ohne Schmerzen und Verletzungen durchs Leben. Niemand ist vor wilden Stürmen geschützt
und vor großen Entscheidungen gefeit –
und oft weiß man erst im Nachhinein,
ob eine Entscheidung richtig war oder nicht.
Und manchmal waren Entscheidungen halt auch falsch.
Das alles hat Sie, uns alle zu den Menschen gemacht,
die wir heute sind – so wie auch der Apfelbaum
zu dem Baum wurde, wie er auf dem Foto zu sehen ist.
Gezeichnet vom Leben.
Vielleicht krumm und schief, mit Verwachsungen und Narben.
Aber: mit Blättern und Früchten.

Entscheidend ist die Quelle.
Für den Baum genau so, wie für den Menschen.
Wie der Baum das Wasser braucht,
um im Herbst trotz aller Widrigkeiten Äpfel zu tragen,
so brauchen auch Menschen ihre Quelle.
Für den Psalmbeter ist diese Quelle das Wort Gottes,
ja, Gott selber.
Mit Gott macht er gemeinsame Sache -
nicht mit den anderen,
die darüber nur müde lächeln oder fies grinsen.
Mit Gott verbündet er sich – sogar Tag und Nacht,
wie der Baum, an dem Tag und Nacht
das Wasser im Bach vorbeifließt.
Und aus dem er ganz selbstverständlich schöpfen kann.
Da muss kein Bauhof kommen
mit dem Wasserfass kommen
und niemand einen Eimer schleppen.
Es ist selbstverständlich für alles gesorgt.
Wenn Sie darüber nachdenken, wie alles geworden ist:
vielleicht entdecken Sie dann auch
an der einen oder anderen Stelle, dass Gott da war.
Vielleicht sogar ganz selbstverständlich und nahezu unbemerkt.
Wie der Bach, der da immer ist.
Vielleicht aber auch sehr bewusst und eindrücklich und unvergesslich.
Vielleicht lässt sich manches im Nachhinein
auch gar nicht mehr so richtig erklären oder nachvollziehen,
warum etwas krumm gewachsen oder vernarbt ist.
Aber das ist gar nicht schlimm,
denn der Baum lebt bis heute – und ist grün.
Entscheidend ist nicht, wie ein Baum aussieht.
Entscheidend ist, er trägt Äpfel.
Ich bin mir sicher: ernten können Sie alle reichlich.
Amen.



Sonntag, 29. Mai 2022

Queer Eye, Paulus und das Selfie mit Jesus

Gottesdienst in  der Eusebiuskirche
Wendlingen am Neckar
Sonntag Exaudi, 29.05.2022

Predigt zu Römer 8, 28-28 


I.                   Selfie

Bestimmt haben alle schonmal mit dem Smartphone
ein Foto gemacht von sich.
Ein Selfie.
Und vermutlich kennen die meisten hier das auch:
Man macht mehrere Versuche,
bis man halbwegs zufrieden ist und man das Gefühl hat:
Das bin ich, so wie ich mich selbst sehen möchte.
Entweder man guckt schräg oder ein Auge ist halb zu.
Oder man sieht das Doppelkinn zu offensichtlich.
Oder eine Haarsträhne hängt, wo sie nicht sein soll.
Jedenfalls haben wir alle eine gewisse Idealvorstellung
von diesem Bild von uns selbst. 

Wenn die eigenen Versuche nicht ausreichen,
dann besteht die Möglichkeit,
über das Bild der Wahl einen sogenannten Filter zu legen.
Also ein technischer Kniff,
um ein Gesicht anders aussehen zu lassen –
ob es damit schöner wird, sei jetzt mal dahingestellt.
Mit diesen Filtern kann man spielen.
Man kann nicht nur ein Gesicht runder oder
schmaler machen und braune Augen blau.
Man kann aus einem Menschengesicht ein
Katzengesicht machen.
Also ein Mensch mit Schnurrharen, rosa Näschen und Katzenohren.
Oder Teufelshörnchen.
Die sind auch sehr in Mode gekommen.
Genauso wie Heiligenscheine,
überdimensionale Daisy-Schleifen und Sonnenbrillen.
Diese lustigen Accessoires legen sich
über das eigene Gesicht,
sodass man selbst noch deutlich erkennbar ist,
aber dennoch ein ganz anderes Bild,
eine ganz andere Figur entsteht.

 

II.                Eugen

Welches Bild haben Menschen von sich selbst?
Selfie-Spielereien sind zwar genau das: Spielereien,
aber sie deuten auf etwas hin,
was tief uns Menschen steckt:
Kein Mensch ist mit dem Bild von sich selbst zufrieden.
Es gibt immer Veränderungspotential.
Und es geht da längst nicht nur um Figur,
Frisur und Modegeschmack.
Offensichtlich tragen alle eine Sehnsucht in sich,
wie es sein könnte.
Und diese Sehnsucht ragt immer über die Realität hinaus.
Damit kann man unterschiedlich umgehen.
Für die einen ist es Ansporn und Entwicklungspotential.
Für andere Ursache dafür, sich selbst aufzugeben.
Zu resignieren, weil unerreichbar scheint,
wie man gern wäre.
Ob es das eine oder das andere ist,
hat vermutlich zu tun mit der biografischen Entwicklung
und dem sozialen Umfeld eines Menschen.
Und mit innerer Stärke -
oder auch dem Fachbegriff: Resilienz. 

Sehr beeindruckend dokumentiert das
die Netflix-Serie Queer Eye.
Die „Fab(ulous) Five“ (die fabelhaften Fünf)
sind unterwegs, um Menschen auf die Spur zu bringen,
die ein völlig falsches Bild von sich haben.
Und alle fünf sind Profis in Sachen Gesundheit,
Psychologie, Beauty, Mode und Lifestyle.
Sie kümmern sich um hoffnungslose Fälle.
Um Menschen, die sich aufgegeben haben.
Bei denen kein Filter mehr hilft.
Ihr Bild von sich hat nichts mehr mit der Realität zu tun.
Sie sehen nicht, welches Potential sie in sich tragen.
Fast immer sind es traurige Geschichten.
Aber: es gibt im Umfeld dieser Menschen Freunde oder Nachbarn,
die immer noch das Potential sehen -
und die Fab Five bestellen.  
Dann wird aus dem kleinen, dicken, ziemlich
verwahrlosten und ungepflegten Eugen
innerhalb von ein paar Tagen ein anderer Mensch.
Weil ihm gezeigt wird, was in ihm steckt.
Was er aus sich machen kann.
Welchen Unterschied es macht,
wenn man seine gesundheitlichen Baustellen ernst nimmt.
Und wie es sich anfühlt,
wenn man von Menschen anders wahrgenommen wird.
Nun ist eine Netflix-Serie mit ausgewählten Schicksalen
nicht das wirkliche Leben und man kann solche
Inszenierungen durchaus kritisch sehen.
Wahrscheinlich ist es auch angemessen,
die Dauerhaftigkeit einer solchen Veränderung
zu hinterfragen.
Aber mit dem inneren Traumbild zu arbeiten,
das Menschen von sich selbst haben,
es zu deuten und es zu entwickeln:
das finde ich großartig.

Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch:
Menschen sind gezeichnet vom Leben.
Im ganz buchstäblichen Sinne.
Sie geben oft ein jämmerliches Bild ab.
Und oft fühlen sie sich noch jämmerlicher,
als sie von anderen wahrgenommen werden.
Eugen ist nicht zufällig so verwahrlost und verlottert.
Eugen ist im Laufe seines Lebens zu dem geworden,
wie sein Leben ihn gezeichnet hat
und wie er dieses Bild von sich interpretiert hat.
Und dieses entstandene Bild macht ihm Mühe.   


III.             Paulus 

Ich lese einen Ausschnitt aus dem heutigen Predigttext.
Er steht im Brief von Paulus an die Gemeinde in Rom:

Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben,
alle Dinge zum Besten dienen,
denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind. 
Denn die er ausersehen hat,
die hat er auch vorherbestimmt,
dass sie gleich sein sollten dem Bild seines Sohnes,
damit dieser der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern.
(Römer 8,28-29)

Auch Paulus hatte Mühe.
Mühe mit dem Bild, das er von sich hatte.
Ein korrekter Mensch war er.
Ein Hundertprozentiger.
Ein kluger Kopf, der einordnen konnte,
was um ihn herum und auch mit ihm passierte.
Und doch fiel ihm seine neue Rolle schwer,
die er innehatte, seit er damals in Damaskus
vom Pferd fiel.
Sein Bild von sich selbst änderte sich
innerhalb kürzester Zeit.
Nicht nur, weil der ehemalige Christenverfolger
jetzt selbst Christ war,
sondern weil er plötzlich blind war -
und gar kein Bild mehr sah.
Im Grunde kann man sagen:
Ein bisschen wie bei Eugen.
Paulus hat sein Potential zu diesem Zeitpunkt nicht erkannt,
als er in Damaskus saß
und vor Schreck drei Tage nichts aß und nichts trank.
Er hatte sich aufgegeben.
Nun war Queer Eye und die Fab Five
damals noch nicht erfunden, aber:
Da war Hananias, der von Jesus gesandte Fabulous One.
Er geht zu Paulus.
Zwar nicht ohne Sorge, aber er weiß, was zu tun ist.
Er legt die Hände auf ihn und richtet ihn auf.
Und Paulus sieht:  Ich bin ein anderer.
Jesus hat mich gezeichnet.  
An etlichen weiteren Stellen in seinen Briefen ist dokumentiert:
Es ist kein schönes Bild.
Er berichtet von Einschränkungen und körperlichen Gebrechen,
von chronischer Krankheit.
Und doch schreibt er: alles dient zum Guten.
Es ist, als ob er einen Filter über alles legt und etwas anderes sieht.
Nicht den gebrochenen, kranken Mann,
dessen Karriere von Jesus jäh durchkreuzt wurde.
Sondern sieht… ja wen denn?

IV.            Gekreuzigt

Es ist das Bild des Gekreuzigten,
das Paulus vor Augen hat.
Das meint Paulus, wenn er davon schreibt, dass
„sie gleich sein sollen dem Bild seines Sohnes“.
Ein paar Verse später erklärt er es:
„Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat,
sondern hat ihn für uns alle dahingegeben –
wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“

Es sind nicht mehr seine eigenen Schwächen,
Einschränkungen und Unzulänglichkeiten,
die Paulus sieht.
Er sieht Jesus.
Er definiert sich selbst nicht mehr über den Schmerz,
der ihm vom Leben zugefügt wurde.
Es sind die Schmerzen die Jesus erlitten hat.
Diesem auferstandenen Jesus ist er begegnet.
Und deshalb hat er verstanden: 
Das eigene Bild ist nicht das Ende.
Das Kreuz ist nicht das Ende.

Paulus spricht von „Verherrlichung“.
Da wird etwas schön,
was beim ersten Hinsehen ganz schrecklich ist.
Und aus Saulus wurde Paulus.
Da wird einer ansehnlich, von dem man sich
im ersten Moment abwenden möchte.  
Wie ein Filter legt sich bei Paulus das Bild
des Gekreuzigten auf das unvorteilhafte und verzerrte
Bild, das er von sich selbst hat.
Mit Jesus kann auch Paulus auferstehen.
Und deshalb sich selbst und andere
mit neuen Augen sehen.

 

V.               Gezeichnet

Eugen ist vom Leben gezeichnet.
Paulus ist vom Leben gezeichnet.
Ich bin vom Leben gezeichnet.

Auch mein Bild von mir ist verzerrt
und ich wünsche mir, anders zu sein.
Viel zu oft sehe auf meine Fehler und meine Ungeduld.
Bin unzufrieden mit meinem Selbstmanagement und
ärgere mich über gesundheitliche Baustellen,
die mir einen Strich durch die Rechnung machen. 
Sehe all mein Scheitern und all die Probleme,
die das mit sich bringt.

Deshalb wünsche ich mir die Hoffnung von Paulus.
Hoffnung, dass mein Bild von mir
nicht die letzte Version ist.
Hoffnung, die auf den passenden Filter setzt.
Den Filter, der auch mein angekratztes Ich,
meine Narben und Verletzungen,
auch meine Wut
und meine Enttäuschung über mich selbst
durchbringt - bis zur Auferstehung.

Und deshalb wünschte ich mir, es gäbe Selfies mit Jesus.
Für mich, für die Eugens dieser Welt und uns alle.
Selfies mit Jesus als Erinnerung daran,
dass all das Unvollkommene und Schmerzhafte
schon längst durchlitten und auferstanden ist.
Selfies mit Jesus, um nicht zu vergessen, dass
mein Bild von mir nicht das Ende der Geschichte ist.
Selfies mit Jesus, damit er sich wie ein Filter
über all das legt, was Mühe macht
und mein Leben schmerzvoll zeichnet.
Und ich sehe dann: Es ist vollbracht.

Selfies mit Jesus? Sie bleiben ein Wunsch.
Kein Wunsch, sondern ein Versprechen
ist die Heilige Geisteskraft.
Gottes „Fab One“, die aufrichtet, stützt, ermutigt,
motiviert, und mich zum Strahlen bringt.
Damit ich mit Paulus sagen kann:
Ich bin gewiss,
dass kein noch so mühsames Bild von mir selbst
mich scheiden kann von der Liebe Gottes,
die in Christus Jesus ist,
meinem Herrn.

Amen.