Donnerstag, 17. August 2023

"...lebe deinen Traum!"

Predigt zu Matthäus 1 und 2
(in Auszügen)
zur Sommerpredigtreihe 2023
im Distrikt Unterer Neckar:
„Ich glaub, ich träum‘!“  

 

I.                    Lebensmotto


„Träume nicht dein Leben – lebe deinen Traum!“
Böse Zungen behaupten,
das sei das Billy-Regal unter den Lebensmottos:
Es ist fast in jedem Haushalt vorhanden –
als Postkarte, Kalenderblatt, Poster,
Retro-Blechschild oder Wand-Tattoo.
Und es ist praktisch.
Deshalb, weil es quasi immer passt.
Träume – haben wir alle.
Und dass Träume Realität werden –
das wünscht sich ganz sicher jede und jeder hier.
Solche Lebensmottos suggerieren uns:
da geht noch was.
Da ist Optimierungspotential.
Das Leben kann noch besser werden,
als es in der Realität ist.
Wirklich?
 

II.                  Randfigur

 

Josefs Träume wurden wahr.  
Ja richtig! Ich meine DEN Josef, den wir alle kennen.
Die Randfigur aus der Weihnachtsgeschichte, auch wenn die so gar nicht in eine Sommerpredigtreihe passt.
Josef, der in einer Art Statistenrolle immer dabei ist.
Der auch an der Krippe,
die wir jedes Jahr unter den Christbaum stellen,
nicht fehlen darf.
Allerdings:
Wenn wir diese Geschichte erzählen,
leuchtet der Spot in aller Regel eher auf Maria.
Ihr Lebenstraum war es sicher nicht,
jung und ungeplant schwanger zu werden.
Und im weiteren Verlauf steht natürlich das Kind,
Jesus, im Mittelpunkt, der Retter der Welt. 
Sein Leben verlief allerdings auch nicht nur traumhaft.
Aber das ist eine andere Geschichte.

Heute also Josef.
Sein Stammbaum reicht zurück bis Abraham,
so lesen wir es im Matthäusevangelium.
In seiner verwandtschaftlichen Linie
finden sich Promis wie David und andere Könige.
Und als einfacher Zimmermann will Josef
vermutlich ein halbwegs anständiges Leben führen.
Welchen Plan er wohl hatte?
Gibt es in diesem Leben Platz für Träume?

Josef war mit Maria verlobt, soviel wissen wir.
Und er war einer, der nach Gottes Willen lebte.
Soweit charakterisiert ihn Matthäus.
Vielleicht ist das der Grund,
weshalb explizit erwähnt wird: 
Maria und Josef hatten noch nicht miteinander geschlafen.
Bemerkenswerterweise war Maria nämlich schwanger.
Und es gehörte sich damals einfach nicht,
dass so etwas passierte, ehe man verheiratet war.
Für Josef besonders heikel:
die Tatsache, dass niemand so recht wusste,
wie das passiert sein soll.
Er konnte sich nicht erklären,
wer nun tatsächlich der Vater des Kindes seiner Verlobten ist.
Kein traumhaftes Szenario.  
                                                                                                                                                                                                                                                   
Also war Josef sehr damit beschäftigt,
in irgendeiner Form aus dieser Nummer rauszukommen.
Und er wollte auch noch fair sein zu Maria.
Er wollte sie nach ihrem offensichtlichen,
und irgendwann auch deutlich sichtbaren „Ausrutscher“ nicht bloßstellen.
Er brütete hin und her -
und kam auf keine vernünftige Lösung.
Dass eine Trennung nicht zu vermeiden ist, war klar.

Aber wie?  
              

III.                Traum

Aus Matthäus 1, 20 ff:

                Doch im Traum erschien ihm ein Engel des Herrn
                und sagte: »Josef, du Nachkomme Davids, fürchte 
                dich nicht, Maria als deine Frau zu dir zu nehmen.    
                Denn das Kind, das sie erwartet, ist aus dem   
                Heiligen Geist. Sie wird einen Sohn zur Welt  
                bringen. Dem sollst du den Namen Jesus geben.
                Denn er wird sein Volk retten: Er befreit es von  
                aller Schuld.«
               Josef wachte auf und tat, was ihm der Engel des   
                Herrn befohlen hatte: Er nahm seine Frau zu sich.

„… lebe deinen Traum!“, Josef!
Nein, Josefs Traum war es sicher nicht,
sich selbst und auch Maria
zum Gespött des Dorfes zu machen.
Eigentlich war sein Plan, genau das zu verhindern.
Nun musste er da durch, mit Maria zusammen.
Neugierige Fragen, skeptische Blicke
und ratloses Kopfschütteln musste er ertragen.
Und er musste sich auf eine Geschichte einlassen,
die er bis dahin noch gar nicht auf dem Schirm hatte.
In den Lebensentwurf
des seriösen Zimmermanns aus Nazareth
passte das alles nicht, Josef hatte andere Pläne.

IV.                Plan oder Traum?

Pläne und Träume –
kann man schonmal verwechseln.
Pläne machen wir,
indem wir die Dinge bedenken und durchdenken,
die uns bekannt sind.
Pläne zu machen heißt,
das Risiko zu kennen und abzuwägen.
Pläne machen heißt:
ich habe mein Leben im Griff.
Und irgendwann komme ich dort an,
wo ich aus heutiger Sicht hin möchte. 
Ein Traum geht anders.
Einen Traum habe ich nicht im Griff.
Der hat mich im Griff.
Und es passieren Dinge,
die man sich nach menschlichem Ermessen
eigentlich gar nicht vorstellen kann.
Ein Traum ist immer größer
als der eigene Horizont.
Ein Traum reicht hinein in eine Welt,
die möglicherweise unverständlich und fremd ist.
Nicht umsonst wollen Träume gedeutet werden
und sind nicht immer selbsterklärend.
Ein Traum birgt ein gewisses Risiko in sich.
Im Falle von Josef auch, sich zum Gespött zu machen.
Den sozialen Status zu verlieren.
Dinge zu tun, die dem gesunden Menschenverstand
und vor allem der gesellschaftlichen Norm
widersprechen.
Josef riskiert das.
Er tut, was ihm im Traum befohlen wurde,
und bleibt bei Maria,  
obwohl er damit blamiert war bis auf die Knochen.
Es liegt eine Reise vor ihm,
die mit Urlaub so gar nichts zu tun hat.
Und die bislang für ihn unvorstellbar war.  

V.                  Realität

Es begab sich aber zu der Zeit,
dass sich Josef mit Maria
und einem Baby namens Jesus
in einem Stall in Bethlehem wiederfand.
Hirtinnen und Hirten waren da,
von Engeln geschickt um Frieden zu finden.
Und fürchterlich kluge Sterndeuter
mit großen Geschenken waren auch da.
Sie sahen in diesem Kind einen neugeborenen König.

Die Wochen gingen ins Land.
In Bethlehem aktenkundig waren sie nun alle drei
– Josef, Maria und Jesus –
und deshalb war es Zeit, an die Heimreise zu denken.
Soweit der sehr vernünftige Plan des Josef.
Aber – ihr wisst schon:
Pläne und Träume sind zweierlei.

Da,

so heißt es weiter in Matthäus 2,

                erschien Josef ein Engel des Herrn im Traum. Er 
                sagte: »Steh auf! Nimm das Kind und seine Mutter  
                und flieh nach Ägypten! Bleibe dort, bis ich es dir  
                sage! Denn Herodes wird das Kind suchen, um es
                zu töten.« Daraufhin stand Josef mitten in der  
                Nacht auf. Er nahm das Kind und seine Mutter und  
                zog mit ihnen nach Ägypten.

VI.                Flucht

Lebe deinen Traum, Josef!
Flieh!
Stellen wir uns das unter einem Lebenstraum vor?
Mit dem eingangs erwähnten Postkartenzitat
hat das wenig zu tun.
„Lebe deinen Traum!“ als Aufforderung,
Menschen in Sicherheit zu bringen.
Leben zu retten.
„Lebe deinen Traum!“
quasi als Lebensversicherung für andere.
Und nicht um das eigene Leben postkartenreif zu malen.
Eine Perspektive, die so gar nicht
in das Konzept eines traumhaften Lebens passt,
aber in dem Moment schlicht sinnvoll,
also tatsächlich voller Lebenssinn, ist.
Ich bin mir ziemlich sicher,
dass Josef keinen Schimmer hatte,
in welcher Lebensgefahr seine Familie sich befand.
Woher hätte er denn auch wissen sollen,
dass Herodes Angst hatte
vor diesem winzigen Kind?
Gut, dass Josef ansprechbar war
für diesen Engel Gottes.
Denn man muss es ganz klar sagen:
Josefs Engelbegegnung im Traum
rettet Jesus das Leben.
Traumhaft ist das ganz und gar nicht, sinnvoll aber sehr.
Und deshalb ganz und gar nicht alltäglich.
Wer denkt schon an Flucht,
wenn man einfach nur auf Dienstreise ist?
Sicher hatten Maria und Josef
nur das Nötigste im Gepäck.
Sie waren ja nur für ein paar Wochen
von Nazareth nach Bethlehem aufgebrochen.
Sie hatten nicht vor,
ihre Heimat für längere Zeit zu verlassen.
Der Plan war, sich zur Volkszählung in Bethlehem einzufinden  
und danach in Nazareth wieder dem Alltag nachzugehen.
Und vielleicht war ja bis dahin
die Aufregung und der Dorftratsch sogar vergessen
um die dubiose Schwangerschaft und die nicht gecrashte Verlobung.
Soweit ein guter Plan,
wenn nicht dieser Traum gewesen wäre.

Der Weg nach Ägypten war lang, heiß und steinig.
Und er führte in ein sehr unbekanntes Land.
Zunächst war alles fremd für Josef und seine Familie.
Aber sie waren in Sicherheit und am Leben.
Alle drei.
Dass der ursprüngliche Plan damit auf Eis war:
geschenkt. Leben ist wichtiger.  

VII.              Rettung

Wenn Träume Leben retten,
dann kommen Pläne durcheinander.
Und Josef war längst nicht nur der Einzige,
dem es so ging.
Träume sind oft die Initialzündung für Rettung.
Der Satz „… lebe deinen Traum!?“
taugt deshalb tatsächlich nur oberflächlich
zur Postkarten- und Kalenderidylle.

Wenn Menschen träumen,
dann tun sie das seit je her in dunklen Stunden.
Nicht nur buchstäblich nachts im Bett,
sondern auch in den dunklen Stunden des Lebens.
Und ob es dann tatsächlich ein „Traum“ sein muss –
das würde ich infrage stellen.
Vielmehr glaube ich,
es geht um die sichere Erkenntnis, das Richtige zu tun
– und das zum richtigen Zeitpunkt.
Immer wieder gab und gibt es Menschen,
die sich auf solche Wege machen.
Sie haben die Gewissheit,
jetzt genau das richtige zu tun.
Eben wie Josef.

 

VIII.            Über-leben: Theodor Dipper

Einer, der mir dazu einfällt, ist Theodor Dipper,
nach dem 2. Weltkrieg Dekan in Nürtingen.
Zuvor war er während der Nazizeit
Pfarrer in Reichenbach und der Initiator
der württembergischen Pfarrhauskette.
Von den Nazis längst mit einem Redeverbot belegt,
hat er in vielen Nacht- und Nebelaktionen
Menschen jüdischen Glaubens versteckt.
Und zwar nicht irgendwo,
sondern nach einem ausgeklügelten System
in Evangelischen Pfarrhäusern in ganz Württemberg.
Unter anderem auch in Köngen, in Kirchheim,
in Reichenbach, Plochingen und Altbach.
Von 19 Menschen ist bekannt,
dass sie ihr Überleben in der Nazizeit
der württembergischen Pfarrhauskette,
also den mutigen Pfarrern und Pfarrfrauen
um Theodor Dipper verdanken.
„… lebe deinen Traum!?“
ist dieser Satz in diesem Kontext nicht fast schon zynisch?
Ich glaube nicht.
Die Idee, sich unter Einsatz des eigenen Lebens
gegen einen verbrecherischen Staat zu positionieren
braucht mehr als nur Verstand und Verantwortungsbewusstsein.
Es braucht einen Antrieb über das hinaus,
was man selbst zu leisten und sich vorzustellen vermag.
Und es braucht eine nahezu übermenschliche Gewissheit,
das Richtige zu tun.

IX.                Über-leben: Flucht über das Meer

Aktuell fallen mir dazu die vielen jungen Menschen
im globalen Süden ein.
Sie sehen für sich und ihre Familie in ihrem Land
keine Zukunft mehr und riskieren
unter Lebensgefahr die Flucht.
Viele davon sind motiviert durch den Traum,
in Europa eine lebenswerte Perspektive zu finden.
Sie wünschen sich für sich und ihre Familie
eine Überlebenschance,
die sie in ihrer Heimat langfristig nicht haben.
Die Verzweiflung ist riesig
und der Kampf ums Überleben unvermeidbar.
Ganze Landstriche
sind durch Hitze und Dürre unbewohnbar.
Hier jammern wir nach ein paar kühleren Tagen,
dass der Sommer vorbei ist.
Gleichzeitig verdrängen wir,
dass wir im Juli den heißesten Monat erlebt haben,
seit die Temperaturen aufgezeichnet werden.
Nicht nur bei uns.
Auch auf der Südhalbkugel,
wo Menschen von einem lebenswerten Leben träumen -
und nicht nur vom knappen über-leben.
„Lebe deinen Traum!“  - ja.
Die sich im Süden auf den Weg machen,
leben den Traum vom guten Leben in Europa.
Auch wenn dieser Traum weitreichende
politische Diskussionen und Probleme nach sich zieht
und auch uns daran erinnert,
dass sich den Ort der Geburt niemand aussuchen kann:
Wenn die Menschen sich nicht auf den Weg machen,
wären sie irgendwann tot.
Gestorben im gnadenlosen Verteilkampf
um Wasser und Nahrung.
Und gestorben im alltäglichen Kampf
gegen Hitze und die Folgen
einer lebensfeindlichen Klimapolitik.
Sie leben ihren Traum um zu über-leben.

X.                  Anders leben

Nicht alle Träume erfüllen sich.
Und manche enden ganz anders,
als sie begonnen haben.
Bei Josef war es so:

Herodes war gestorben. Da erschien Josef in  Ägypten im Traum ein Engel des Herrn. Der sagte: »Steh auf! Nimm das Kind und seine Mutter und geh in das Land Israel! Denn alle, die das Kind umbringen wollten, sind tot.« Josef stand auf, nahm das Kind und seine Mutter und kehrte in das Land Israel zurück.

„…lebe deinen Traum!“
Josef brachte seine Familie heil wieder zurück.
Dass das ganze Abenteuer gut ausgeht,
wusste er erst am Ende,
als er wieder zu Hause war.

Manchmal geht es anders aus, als man denkt und hofft.
Anfang der 80er Jahre nutzte
der Frankfurter Stadtjugendpfarrer Martin Jürges
sein Pfarrhaus nicht nur zum Wohnen
für sich selbst und seine Familie.
Er öffnete es auch für andere.
Seinen Keller stellte als Probenraum
für eine neu gegründete Jugendband zur Verfügung.
Eine Wohnung im 4. Stock diente als WG
für eine Gruppe gestrandeter Jugendlicher,
die sich „Kaputtnix“ nannte.
Eines Abends haben Pfarrer Martin Jürges
und Eugen Eckert,
der zur Band aus dem Keller gehörte,
zwei dieser Jugendlichen
im letzten Moment noch festhalten können.
Sie wollten aus einem Fenster im 4. Stock
in den sicheren Tod springen.
Berührt von diesem Geschehen
griff nur wenige Wochen später
die Vorbereitungsgruppe für den Stadtjugendgottesdienst
die Frage nach dem Sinn des Lebens auf.
Eugen Eckert schrieb das Lied
„Halte deine Träume fest“
als Mottolied für den nächsten Gottesdienst.
Es wurde von da an das Lied
einer Bewegung um Martin Jürges.
Als Friedensaktivist
und sozial überaus engagierter Pfarrer
war er weithin bekannt.
Sein Traum von einer friedlichen
und sozialen Welt war ansteckend
und viele engagierten sich in seiner Gemeinde.
Umso tragischer war,
dass er und seine Familie im Mai 1983
durch herabfallende Wrackteile eines
verunglückten Kampfflugzeugs
bei einer Flugvorführung
ums Leben kamen.
Auch bei der Beerdigung
von Martin Jürges und seiner Familie
wurde das Lied „Halte deine Träume fest“ gesungen.
Das Lied und seine Geschichte
ist auch ein Vermächtnis an uns:
Aus dem damaligen Pfarrhaus-Projekt
und der Erfahrung mit der WG „Kaputtnix“
entstand die Band HABAKUK -
und viele der Lieder,
die bis heute in vielen Gemeinden
und bei Kirchentagen gesungen werden.
Wir jetzt auch:

Halte deine Träume fest,
lerne sie zu leben.
Gegen zu viel Sicherheit,
gegen Ausweglosigkeit:
halte deine Träume fest.       Amen.