Sonntag, 17. März 2024

"Dein Gott mag mein Brot nicht"

Gottesdienst zum 

Kino in der Kirche 
am 17. März 2024 
im Johannesforum


„Treffen sich zwei Männer in der Wüste…“

Der eine ist Ben. Orthodoxer Jude aus New York. Eigentlich auf dem Weg ins Heilige Land, um dort sein Studium abzuschließen und endlich standesgemäß verheiratet zu werden, denn seine große Liebe hält er geheim. Er kommt an bei seinem Onkel in Jerusalem – und wird sofort weitergeschickt. Er muss nach Alexandria, um die dortige jüdische Gemeinde zu retten und mit ihr Pessach zu feiern. Die Gemeinde ist kurz vor ihrem Ende – ihr fehlt der 10. Mann. Bis Pessach muss er dort sein, egal wie. Sonst wird sie aufgelöst und ihr komplettes Vermögen fällt an den Staat.

Die Reise erweist sich als Abenteuer und nach einer dubiosen Fahrt mit dem Bus muss er schließlich den Weg zu Fuß fortsetzen – mitten durch die Wüste.

„Treffen sich zwei Männer in der Wüste…“

Der andere ist Adel. Sein Großvater war Beduine. Er ist einer, der seine Familientradition zu einem Geschäftsmodell gemacht hat. Mit Palästinensertuch, verratzter Jeans und weißem Nomadengewand schlägt er sich als Touristen-Guide durch. Motorisiert mit einem klapprigen Toyota-Geländewagen trotzt er der Wüste Kilometer um Kilometer ab. Er ist hier groß geworden. Er kennt sich aus. Er ist auf der Suche nach seinem Kamel. Und er hält an, als Ben ziemlich verloren dabei war, aus dieser Wüste hinauszufinden.

Adel lässt Ben einsteigen in seinen klapprigen Toyota. Die Unterschiede zwischen den Beiden sind schnell deutlich. Sprache, Herkunft, Kultur – und vor allem Religion. Vieles scheint sie zu trennen.

Ob das gut geht? Findet der Eine sein Kamel und kommt der Andere in „Alex“ an?

Auf dem gemeinsamen Weg vor einem – zugegebenermaßen überraschenden – Ende passiert etwas zwischen den beiden Männern. Und wir springen jetzt direkt hinein in den Film. Wir sehen einen Ausschnitt von etwa 20 Minuten. Ich lade Sie ein, vor allem hinzuschauen und zu hören unter einer bestimmten Fragestellung: „Was passiert zwischen diesen beiden Männern?“

Filmausschnitt 37:00 bis 58:18

 

„Treffen sich zwei Männer in der Wüste…“

Es ist eine unmögliche Situation. Ehrlich gesagt geht es einfach nur ums Überleben. Für beide. Eigentlich hat keiner Interesse am anderen. Sie stammen aus völlig unterschiedlichen Welten. Er, der orthodoxe Jude. Fest verankert im jüdischen Glauben und in der jüdischen Tradition. Was in der Thora steht, wird wörtlich genommen. Die 613 Mizwe neben den 10 Geboten hat er drauf. Nicht nur auswendig im Kopf. Er lebt sie auch. Nicht nur indem er an Sabbat sein Geld abgibt und seine Tasche tragen lässt. Die rituellen Waschungen zieht er durch. Bis sein                Weggefährte ausflippt. „Die Lebensgefahr bist du!“

Und dann er, der Wüstenbewohner und Überlebenskünstler, auf der Suche nach seinem Kamel. Er weiß, was sein Überleben sicherstellt. Kennt die Wege in der Wüste, die Verstecke der Vogeleier und vor allem: die Wasserlöcher. Deshalb weiß er auch, dass der andere ohne ihn nicht überlebt. Und er beschützt ihn. Beduinengesetz. Und er versteht deshalb nachvollziehbarerweise nicht, weshalb man so dumm sein kann, und sich selbst in Lebensgefahr bringt – aus religiösen Gründen.  

Sie sind aufeinander angewiesen. Adel ist sich dessen bewusst. Ben vielleicht auch – aber seine Religion lässt ihn nicht über den Schatten springen.
Adel findet Worte. „Dein Gott mag mein Brot nicht.“
Für mich ist es, als ob Adel diesen Vorschriften-Gott von Ben plötzlich dazuholt. Zum Lagerfeuer. Ein Gott, der Brot nicht mag – das ist ein sehr präsenter Gott. Ein Gott der da ist, an diesem gottverlassenen Ort in der Wüste, dort am Feuer, wo es duftet nach Kohle und Rauch – Bifi aus der Dose und frischem Brot. Ich denke da sofort an den brennenden Busch in der Wüste. In dem Gott ist. Und an Mose, der vor diesem Busch steht und hört: Ich bin der Gott deiner Vorfahren. Ich habe eine Aufgabe für dich. Gehe nach Ägypten und befreie dein Volk. Sieh zu, dass sie wieder Pessach feiern können. Aber Ben hängt fest in der Wüste, in seinen Mizwe, in seinen Ritualen. Und der Ich- bin- da-Gott mag Adels Brot nicht.

„Treffen sich 2 Menschen in der Wüste“

Wüsten gibt es viele. Lebensfeindliche Zonen, in denen man gut überlegen muss, wie man hindurch kommt.  Nicht nur solche mit Hitze und Sand – und ohne Wasser. Ich meine damit lebensfeindliche Zonen, in denen das Alltags-Überleben irgendwie sichergestellt werden muss. Denn oft ist es gar nicht das physische Überleben. Seelenwüsten sind nicht weniger gefährlich. Und sie gibt es zu allen Zeiten und an allen Orten. Es gibt Wüsten am Arbeitsplatz, wo man nur noch hingeht, weil das Pflichtbewusstsein und wirtschaftliche Zwänge keine andere Wahl lassen. Es gibt Wüsten in Partnerschaften, in denen keine Wertschätzung geteilt wird und man nur noch zusammenlebt, weil es die günstigste Lösung ist. Und auch in unserer Kirche gibt es Wüsten. Diese Woche habe ich mit Menschen gesprochen – und jetzt muss ich leider eine Triggerwarnung aussprechen - die in unserer Kirche um das Überleben ihrer Seele kämpfen mussten. Menschen, die unsere Kirche als lebensfeindliche Zone wahrnehmen. Weil niemand sie hören wollte. Und ihnen lange Zeit niemand ihre Geschichte geglaubt hat. Die Geschichte vom sexuellen Übergriff durch den Pfarrer – und im anderen Fall durch den Posaunenchorleiter. Die beiden, mit denen ich gesprochen habe, haben den Weg aus dieser Wüste herausgefunden. Wieviele dort noch unterwegs sind, wissen wir nicht.
Wenn man einer Wüste einem Menschen begegnet, der die Gefahr kennt und um einen Weg weiß, ist das ein Segen. Einer, der die Wüste kennt wie seine Westentasche, mit dem man sich zusammentun und eine Art Hoffnungsgemeinschaft bilden kann. So ein Mensch ist nahe dran an einer Lebensversicherung. Vielleicht ist das jemand wie Adel, der völlig anders drauf ist. Aber: er kennt das Beduinengesetz und beschütz dich. Oder er weiß andere Dinge, die man wissen muss, um in Wüsten zu überleben. Mir fallen David und Jonathan ein. Als David sich auf der Flucht vor Saul im Wüstengebirge versteckt, findet ihn Jonathan dort, und es heißt: „er weckte neues Vertrauen in ihm“. Vertrauen, weiterzumachen.
Im besten Fall lernt man das, was Adel und Ben gemeinsam gelernt haben: einander zu vertrauen. Sich einander anzuvertrauen. Dann findet man auch das Wasserloch in der Wüste. Oder, wie im Verlauf der Geschichte von Ben und Adel, wieder aus dem Wasserloch heraus. Und manchmal auch das gesuchte Kamel.


„Begegnen sich (2) Menschen beim Essen“.

Vorhin hab ich gesagt: Lasst uns drauf schauen, was in dem Filmausschnitt, - und eigentlich im Laufe des ganzen Films, zwischen diesen Männern passiert.
„Dein Gott mag mein Brot nicht.“ Da scheint etwas ganz Existentielles zwischen ihnen zu stehen, als Ben das im Feuer gebackene Fladenbrot ablehnt. Es sorgt für Irritation bei seinem Gefährten. Trotzdem machen sie gemeinsam weiter. Sie erleben allerhand zusammen, als sie sich durch die Wüste schlagen. Und sie erzählen sich. Immer öfter geht es um persönliche Dinge. Sie teilen sich einander mit. Auch ihre Ängste. Ihre Liebe. Ihr Scheitern. Sie begegnen einander, indem sie nicht nur ihr Überleben einander anvertrauen, sondern auch ihr Herz. Irgendwann geht es wieder ums Essen. Am Lagerfeuer. Gemeinsam bereiten sie Fladenbrot zu und essen es. Und Adel stellt fest: „Heute mag dein Gott mein Brot.“ Der Ich-bin-da-Gott ist bei ihnen, weil sie das Brot gemeinsam zubereitet haben. Und er schafft eine Verbindung über alles hinweg, was zwischen den Männern steht. Sie lernen aus eigener Erfahrung: gemeinsam Essen schafft Frieden. Wo Menschen gemeinsam an einen Tisch essen passiert Versöhnung. Kann Vergeben werden. Und ist der Ich-bin-da-Gott mit am Tisch. Das ist so beim Pessach feiern, beim Iftar und beim Abendmahl. Und auch beim Falafel-Imbiss am Stehtisch im Kirchenkino. Daheim in der Familie und im No Name-Restaurant mitten in der Wüste, das Ben und Adel am Ende ihrer kuriosen Reise eröffnen.

Mich, und ich glaube viele von Ihnen auch, hat diese Begegnungsgeschichte berührt. Vielleicht bewegt mich dieser Film deshalb so sehr, weil die Gegend, in der er spielt, Frieden nötiger hat, denn je. Weil wir uns von Herzen wünschen, dass es solche Geschichten auch „in echt“ gibt – und eben nicht nur im Film.
Ich bin mir sicher: sie gibt es, diese Geschichten. Nicht nur dort. Immer und überall, wo Menschen zusammen essen, gehen Menschen verändert aus einer Begegnung hervor. Eine Kultur der Gastfreundschaft, ein offenes Haus und ein offenes Herz bewirkt deshalb vielleicht mehr, als manche Friedensverhandlungen. Egal ob im Nahen Osten, in Europa oder hier bei uns in Wendlingen und in unseren Familien. Amen.




(Foto: Unsplash)

Gewappnet

 

Sie fühlt sich gewappnet für Weihnachten: Stollen gebacken, Fenster geputzt, Lichterkette entknotet und installiert, Karpfen bestellt, Geschenke verpackt, Eisenbahn aufgebaut, Likör abgefüllt, Karten geschrieben, Baum gekauft und Friseurtermin für morgen gebucht. Läuft also weitgehend. Da war noch die kaputtgespielte Krippe… ach, das schafft sie heute auch noch. Und doch: ein bisschen geht ihr die Luft aus. Also erst mal Musik an, durchatmen und dann die Kiste vom Regal holen.

Die Kiste mit dem wertvollen Inhalt steht auf dem Küchentisch, neben ihr eine Flasche Leim. Sorgfältig kontrolliert sie jede Figur. Bis auf den alten Hirten ist tatsächlich alles in Ordnung. Aber der muss geklebt werden. Der Arm ist ab. Sie hält inne. Zwischen all den Hirten Königen, Engeln und Maria liegt ein kleiner Jesus in der Schachtel. Gerade mal so groß, wie ihr Finger. Aus Holz geschnitzt und sehr nackt. Bis auf den kleinen Schnipsel einer Mullbinde, die einmal als Windel um ihn herumgewickelt wurde. Sie nimmt die Figur heraus. Ihre Hand fühlt sich riesig an. Und Jesus ist so klein. Überrascht stellt sie fest: Im Gegensatz zu ihr ist dieser kleine Jesus nicht gewappnet. Nicht für diese Welt. Nicht für dieses Leben zwischen Glitzer und Geschenkpapierbergen, Lichterketten und Gebäckdosen. Jesus kam unvorbereitet zur Welt. Eine ungeplante Schwangerschaft war das, wenn sie sich richtig erinnert. Und in einem Stall geboren zu werden, war sicher kein Vergnügen.  
Sie setzt sich auf den Stuhl und ist seltsam berührt von dem Gedanken, dass ihre anstrengenden Vorbereitungen für ein möglichst perfektes Weihnachtsfest gar nichts mit diesem kleinen Baby-Jesus zu tun haben. Wenn sie ehrlich ist, dann ist er so, wie sie sich grade selbst fühlt: verletzlich, zerbrechlich, dünnhäutig. Und gar nicht weihnachtlich. Und ein bisschen ist es, als ob sie jetzt diesen kleinen Jesus beschützt mit ihrer großen Hand. Beschützt vor dieser lauten, bunten, perfekten Weihnachtswelt. Sie schluckt.
Nein, sie ist auch nicht gewappnet. Nicht für diese Situation, die sie unerwartet berührt. Sie ist nicht gewappnet für eine Begegnung mit Gott, der für sie bisher immer ein bisschen rätselhaft war. Und ziemlich weit weg. Jetzt liegt er in ihrer Hand: Gott, dieses verletzliche, zerbrechliche, dünnhäutige Wesen. Das Radio dudelt vor sich hin, während sie ihren Gedanken nachhängt. Ein paar Wortfetzen einer weiblichen Stimme dringen zu ihr durch:
Wir haben die Wahl
Wir könnten auch mal was riskieren
Wir könnten uns verletzlich zeigen und die Hoffnung nicht verlieren
(Aus dem Album: Berge; Für die Liebe; ©Dimitri Bortnianski / Gerd Koethe / Michael Kunze / Roland Heck)

Sie blickt den kleinen Jesus in ihrer Hand an. Stellt fest: Das ist ein sehr hilfloser Gott. Dem Leben nicht gewappnet. Ein Kind – gerade mal eine Hand voll. Und doch ist er der Heiland der Welt. Ein Gedanke schießt ihr durch den Kopf: Vielleicht ist Hoffnung das einzige, mit dem wir uns wirklich wappnen können. Vor ihrem inneren Auge sieht sie Bilder aus Israel und Gaza und Syrien, vom Mittelmeer und aus der Ukraine. Kinder, Frauen, Männer. In Gedanken ist sie auch bei dem Mann, der unten am See wohnt und der nur aus einer Plastiktüte lebt. Sie hört das Lied nochmal an. Wir haben die Wahl tönt es wieder aus dem Lautsprecher.  Ja, ich hab die Wahl, denkt sie laut. Weihnachten ist, wenn man mit Hoffnung gewappnet ist. Sie legt den kleinen Jesus wieder zurück zu den anderen Figuren. Daneben liegt der alte Hirte. Der Leim muss noch trocknen, aber dann ist er wieder heil. Auch wenn der Lack ab ist.




Samstag, 11. November 2023

Geh mit Gott, aber geh!

"Abspann" zum Kirchenkino 
am Reformationstag 2023 


Geh mit Gott, aber geh!
Der Weg war abenteuerlich
für Arbo, Benno und Tassilo.
Ob sie ihn wohl gegangen wären,
wenn sie gewusst hätten,
was auf sie zu kommt?
Blasen an den Füßen.
Die Ziege Hildegard vom Zug überfahren.
Selbst beinahe auch mit hops gegangen.
Einem Auto in den Weg gefallen.
Eine Frau am Steuer, die sie nicht hängen lässt, Chiara.
Eine Verbrecherjagd.
Ein Telefon.
Eine Kassette. Ein Fotoapparat.
Und darüber hinaus:
all dieses Menschliche,
das im Klosterleben bisher keinen Raum hatte.
Gefühle.
Sex, Drugs & Rock’n Roll.
Das alles bringt das Konzept der drei Mönche
gewaltig durcheinander.
Jeden auf eine ganz andere Art.
Bisher fühlten sie sich ihrem Orden verpflichtet.
Aber jetzt?
Arbo verliebt sich.
Tassilo bleibt bei Mama.
Benno öffnet sich der Theologie als Ganzes.

Geh mit Gott, aber geh!
Diese Welt ist so groß!
Und es gibt so viel zu entdecken! 
Wer nicht losgeht,
und die Blasen an den Füßen nicht riskiert,
wird nicht entdecken, wie groß die Welt ist.
Wer sich hinter Mauern versteckt,
wird nicht nach Hause finden.
Wird nie die Liebe entdecken.
Und wird auch nicht verstehen,
dass es unterschiedliche Vorstellungen von Gott gibt.
Vorstellungen von Kirche.
Vorstellung von Glauben, von Religiosität.
Aber wer sich auf den Weg macht,
wird entdecken,
was Freiheit bedeutet.
Freiheit von festgefahrenen Vorstellungen.
Traditionen. Regeln.
Freiheit von „man sollte“. Und „man muss“.
Und „was sollen denn die anderen denken?“

Heute ist Reformationstag.
Wir feiern, was Martin Luther entdeckt hat.
Und wir feiern, was Arbo, Benno und Tassilo
auf ihrem Weg erfahren haben.
Um es mit Tassilos Worten zu sagen,
die er an Benno richtet:

„Ich kann beim Ziegenmelken
Gott genauso nahe sein,
wie du in deiner verstaubten Bibliothek!“

Es ist nicht falsch, sich in Büchern zu vergraben.
Das meint Tassilo nicht.
Er sagt:
Mein Weg mit Gott ist ein anderer als deiner.
Es geht nicht um die Frage nach entweder – oder.
Entweder Ziegenstall oder Bibliothek,
sondern: Ist es mein Weg mit Gott?

Ist Gott mit mir und bin ich bei Gott?
Beim Ziegenmelken, Bücher wälzen,
Rasenmähen, Schneeschippen?
Beim Daimler am Band,
auf dem Bauteppich im Kindergarten,
beim Frisör, beim Strandspaziergang,
beim Singen in der Kantorei,
an der Posaune, am E-Bass, im Rettungsdienst,
beim Windeln oder Autoreifen wechseln?
Beim Beten eines Vater unsers,
hören eines Podcasts, beim chillen mit Netflix oder
bei der Fotojagd nach dem schönsten Herbstmotiv?
Ist Gott mit mir und bin ich bei Gott?

Die Antwort unterschiedlich.
So unterschiedlich wie wir Menschen sind.
Und so endet auch der Film.
Der Weg,
den Arbo, Tassilo und Benno
gemeinsam begonnen haben,
teilt sich.
Jeder macht seine eigenen Erfahrungen.

Nicht ohne Hindernisse.
Auch nicht ohne Verluste, Verletzungen,
größere und kleinere Kämpfe.
Aber jeder nutzt seine Chance.
Die Chance auf Freiheit.
Die Chance, erwachsen zu werden.
Die Chance, zu werden, wie Gott ihn gemeint hat.

Ich wünsche dir,
dass du dich auf den Weg machst.
Deinen Weg.
Dass du keine Angst hast
vor Blasen an den Füßen.
Dass du Herausforderungen annehmen kannst,
die dein Weg mit sich bringt.
Und ich wünsche dir, dass du gewiss bist:
Gott ist mit dir auf deinem Weg.

Deshalb: Vaya con Dios.
Geh mit Gott, aber geh!
Amen.







Donnerstag, 17. August 2023

"...lebe deinen Traum!"

Predigt zu Matthäus 1 und 2
(in Auszügen)
zur Sommerpredigtreihe 2023
im Distrikt Unterer Neckar:
„Ich glaub, ich träum‘!“  

 

I.                    Lebensmotto


„Träume nicht dein Leben – lebe deinen Traum!“
Böse Zungen behaupten,
das sei das Billy-Regal unter den Lebensmottos:
Es ist fast in jedem Haushalt vorhanden –
als Postkarte, Kalenderblatt, Poster,
Retro-Blechschild oder Wand-Tattoo.
Und es ist praktisch.
Deshalb, weil es quasi immer passt.
Träume – haben wir alle.
Und dass Träume Realität werden –
das wünscht sich ganz sicher jede und jeder hier.
Solche Lebensmottos suggerieren uns:
da geht noch was.
Da ist Optimierungspotential.
Das Leben kann noch besser werden,
als es in der Realität ist.
Wirklich?
 

II.                  Randfigur

 

Josefs Träume wurden wahr.  
Ja richtig! Ich meine DEN Josef, den wir alle kennen.
Die Randfigur aus der Weihnachtsgeschichte, auch wenn die so gar nicht in eine Sommerpredigtreihe passt.
Josef, der in einer Art Statistenrolle immer dabei ist.
Der auch an der Krippe,
die wir jedes Jahr unter den Christbaum stellen,
nicht fehlen darf.
Allerdings:
Wenn wir diese Geschichte erzählen,
leuchtet der Spot in aller Regel eher auf Maria.
Ihr Lebenstraum war es sicher nicht,
jung und ungeplant schwanger zu werden.
Und im weiteren Verlauf steht natürlich das Kind,
Jesus, im Mittelpunkt, der Retter der Welt. 
Sein Leben verlief allerdings auch nicht nur traumhaft.
Aber das ist eine andere Geschichte.

Heute also Josef.
Sein Stammbaum reicht zurück bis Abraham,
so lesen wir es im Matthäusevangelium.
In seiner verwandtschaftlichen Linie
finden sich Promis wie David und andere Könige.
Und als einfacher Zimmermann will Josef
vermutlich ein halbwegs anständiges Leben führen.
Welchen Plan er wohl hatte?
Gibt es in diesem Leben Platz für Träume?

Josef war mit Maria verlobt, soviel wissen wir.
Und er war einer, der nach Gottes Willen lebte.
Soweit charakterisiert ihn Matthäus.
Vielleicht ist das der Grund,
weshalb explizit erwähnt wird: 
Maria und Josef hatten noch nicht miteinander geschlafen.
Bemerkenswerterweise war Maria nämlich schwanger.
Und es gehörte sich damals einfach nicht,
dass so etwas passierte, ehe man verheiratet war.
Für Josef besonders heikel:
die Tatsache, dass niemand so recht wusste,
wie das passiert sein soll.
Er konnte sich nicht erklären,
wer nun tatsächlich der Vater des Kindes seiner Verlobten ist.
Kein traumhaftes Szenario.  
                                                                                                                                                                                                                                                   
Also war Josef sehr damit beschäftigt,
in irgendeiner Form aus dieser Nummer rauszukommen.
Und er wollte auch noch fair sein zu Maria.
Er wollte sie nach ihrem offensichtlichen,
und irgendwann auch deutlich sichtbaren „Ausrutscher“ nicht bloßstellen.
Er brütete hin und her -
und kam auf keine vernünftige Lösung.
Dass eine Trennung nicht zu vermeiden ist, war klar.

Aber wie?  
              

III.                Traum

Aus Matthäus 1, 20 ff:

                Doch im Traum erschien ihm ein Engel des Herrn
                und sagte: »Josef, du Nachkomme Davids, fürchte 
                dich nicht, Maria als deine Frau zu dir zu nehmen.    
                Denn das Kind, das sie erwartet, ist aus dem   
                Heiligen Geist. Sie wird einen Sohn zur Welt  
                bringen. Dem sollst du den Namen Jesus geben.
                Denn er wird sein Volk retten: Er befreit es von  
                aller Schuld.«
               Josef wachte auf und tat, was ihm der Engel des   
                Herrn befohlen hatte: Er nahm seine Frau zu sich.

„… lebe deinen Traum!“, Josef!
Nein, Josefs Traum war es sicher nicht,
sich selbst und auch Maria
zum Gespött des Dorfes zu machen.
Eigentlich war sein Plan, genau das zu verhindern.
Nun musste er da durch, mit Maria zusammen.
Neugierige Fragen, skeptische Blicke
und ratloses Kopfschütteln musste er ertragen.
Und er musste sich auf eine Geschichte einlassen,
die er bis dahin noch gar nicht auf dem Schirm hatte.
In den Lebensentwurf
des seriösen Zimmermanns aus Nazareth
passte das alles nicht, Josef hatte andere Pläne.

IV.                Plan oder Traum?

Pläne und Träume –
kann man schonmal verwechseln.
Pläne machen wir,
indem wir die Dinge bedenken und durchdenken,
die uns bekannt sind.
Pläne zu machen heißt,
das Risiko zu kennen und abzuwägen.
Pläne machen heißt:
ich habe mein Leben im Griff.
Und irgendwann komme ich dort an,
wo ich aus heutiger Sicht hin möchte. 
Ein Traum geht anders.
Einen Traum habe ich nicht im Griff.
Der hat mich im Griff.
Und es passieren Dinge,
die man sich nach menschlichem Ermessen
eigentlich gar nicht vorstellen kann.
Ein Traum ist immer größer
als der eigene Horizont.
Ein Traum reicht hinein in eine Welt,
die möglicherweise unverständlich und fremd ist.
Nicht umsonst wollen Träume gedeutet werden
und sind nicht immer selbsterklärend.
Ein Traum birgt ein gewisses Risiko in sich.
Im Falle von Josef auch, sich zum Gespött zu machen.
Den sozialen Status zu verlieren.
Dinge zu tun, die dem gesunden Menschenverstand
und vor allem der gesellschaftlichen Norm
widersprechen.
Josef riskiert das.
Er tut, was ihm im Traum befohlen wurde,
und bleibt bei Maria,  
obwohl er damit blamiert war bis auf die Knochen.
Es liegt eine Reise vor ihm,
die mit Urlaub so gar nichts zu tun hat.
Und die bislang für ihn unvorstellbar war.  

V.                  Realität

Es begab sich aber zu der Zeit,
dass sich Josef mit Maria
und einem Baby namens Jesus
in einem Stall in Bethlehem wiederfand.
Hirtinnen und Hirten waren da,
von Engeln geschickt um Frieden zu finden.
Und fürchterlich kluge Sterndeuter
mit großen Geschenken waren auch da.
Sie sahen in diesem Kind einen neugeborenen König.

Die Wochen gingen ins Land.
In Bethlehem aktenkundig waren sie nun alle drei
– Josef, Maria und Jesus –
und deshalb war es Zeit, an die Heimreise zu denken.
Soweit der sehr vernünftige Plan des Josef.
Aber – ihr wisst schon:
Pläne und Träume sind zweierlei.

Da,

so heißt es weiter in Matthäus 2,

                erschien Josef ein Engel des Herrn im Traum. Er 
                sagte: »Steh auf! Nimm das Kind und seine Mutter  
                und flieh nach Ägypten! Bleibe dort, bis ich es dir  
                sage! Denn Herodes wird das Kind suchen, um es
                zu töten.« Daraufhin stand Josef mitten in der  
                Nacht auf. Er nahm das Kind und seine Mutter und  
                zog mit ihnen nach Ägypten.

VI.                Flucht

Lebe deinen Traum, Josef!
Flieh!
Stellen wir uns das unter einem Lebenstraum vor?
Mit dem eingangs erwähnten Postkartenzitat
hat das wenig zu tun.
„Lebe deinen Traum!“ als Aufforderung,
Menschen in Sicherheit zu bringen.
Leben zu retten.
„Lebe deinen Traum!“
quasi als Lebensversicherung für andere.
Und nicht um das eigene Leben postkartenreif zu malen.
Eine Perspektive, die so gar nicht
in das Konzept eines traumhaften Lebens passt,
aber in dem Moment schlicht sinnvoll,
also tatsächlich voller Lebenssinn, ist.
Ich bin mir ziemlich sicher,
dass Josef keinen Schimmer hatte,
in welcher Lebensgefahr seine Familie sich befand.
Woher hätte er denn auch wissen sollen,
dass Herodes Angst hatte
vor diesem winzigen Kind?
Gut, dass Josef ansprechbar war
für diesen Engel Gottes.
Denn man muss es ganz klar sagen:
Josefs Engelbegegnung im Traum
rettet Jesus das Leben.
Traumhaft ist das ganz und gar nicht, sinnvoll aber sehr.
Und deshalb ganz und gar nicht alltäglich.
Wer denkt schon an Flucht,
wenn man einfach nur auf Dienstreise ist?
Sicher hatten Maria und Josef
nur das Nötigste im Gepäck.
Sie waren ja nur für ein paar Wochen
von Nazareth nach Bethlehem aufgebrochen.
Sie hatten nicht vor,
ihre Heimat für längere Zeit zu verlassen.
Der Plan war, sich zur Volkszählung in Bethlehem einzufinden  
und danach in Nazareth wieder dem Alltag nachzugehen.
Und vielleicht war ja bis dahin
die Aufregung und der Dorftratsch sogar vergessen
um die dubiose Schwangerschaft und die nicht gecrashte Verlobung.
Soweit ein guter Plan,
wenn nicht dieser Traum gewesen wäre.

Der Weg nach Ägypten war lang, heiß und steinig.
Und er führte in ein sehr unbekanntes Land.
Zunächst war alles fremd für Josef und seine Familie.
Aber sie waren in Sicherheit und am Leben.
Alle drei.
Dass der ursprüngliche Plan damit auf Eis war:
geschenkt. Leben ist wichtiger.  

VII.              Rettung

Wenn Träume Leben retten,
dann kommen Pläne durcheinander.
Und Josef war längst nicht nur der Einzige,
dem es so ging.
Träume sind oft die Initialzündung für Rettung.
Der Satz „… lebe deinen Traum!?“
taugt deshalb tatsächlich nur oberflächlich
zur Postkarten- und Kalenderidylle.

Wenn Menschen träumen,
dann tun sie das seit je her in dunklen Stunden.
Nicht nur buchstäblich nachts im Bett,
sondern auch in den dunklen Stunden des Lebens.
Und ob es dann tatsächlich ein „Traum“ sein muss –
das würde ich infrage stellen.
Vielmehr glaube ich,
es geht um die sichere Erkenntnis, das Richtige zu tun
– und das zum richtigen Zeitpunkt.
Immer wieder gab und gibt es Menschen,
die sich auf solche Wege machen.
Sie haben die Gewissheit,
jetzt genau das richtige zu tun.
Eben wie Josef.

 

VIII.            Über-leben: Theodor Dipper

Einer, der mir dazu einfällt, ist Theodor Dipper,
nach dem 2. Weltkrieg Dekan in Nürtingen.
Zuvor war er während der Nazizeit
Pfarrer in Reichenbach und der Initiator
der württembergischen Pfarrhauskette.
Von den Nazis längst mit einem Redeverbot belegt,
hat er in vielen Nacht- und Nebelaktionen
Menschen jüdischen Glaubens versteckt.
Und zwar nicht irgendwo,
sondern nach einem ausgeklügelten System
in Evangelischen Pfarrhäusern in ganz Württemberg.
Unter anderem auch in Köngen, in Kirchheim,
in Reichenbach, Plochingen und Altbach.
Von 19 Menschen ist bekannt,
dass sie ihr Überleben in der Nazizeit
der württembergischen Pfarrhauskette,
also den mutigen Pfarrern und Pfarrfrauen
um Theodor Dipper verdanken.
„… lebe deinen Traum!?“
ist dieser Satz in diesem Kontext nicht fast schon zynisch?
Ich glaube nicht.
Die Idee, sich unter Einsatz des eigenen Lebens
gegen einen verbrecherischen Staat zu positionieren
braucht mehr als nur Verstand und Verantwortungsbewusstsein.
Es braucht einen Antrieb über das hinaus,
was man selbst zu leisten und sich vorzustellen vermag.
Und es braucht eine nahezu übermenschliche Gewissheit,
das Richtige zu tun.

IX.                Über-leben: Flucht über das Meer

Aktuell fallen mir dazu die vielen jungen Menschen
im globalen Süden ein.
Sie sehen für sich und ihre Familie in ihrem Land
keine Zukunft mehr und riskieren
unter Lebensgefahr die Flucht.
Viele davon sind motiviert durch den Traum,
in Europa eine lebenswerte Perspektive zu finden.
Sie wünschen sich für sich und ihre Familie
eine Überlebenschance,
die sie in ihrer Heimat langfristig nicht haben.
Die Verzweiflung ist riesig
und der Kampf ums Überleben unvermeidbar.
Ganze Landstriche
sind durch Hitze und Dürre unbewohnbar.
Hier jammern wir nach ein paar kühleren Tagen,
dass der Sommer vorbei ist.
Gleichzeitig verdrängen wir,
dass wir im Juli den heißesten Monat erlebt haben,
seit die Temperaturen aufgezeichnet werden.
Nicht nur bei uns.
Auch auf der Südhalbkugel,
wo Menschen von einem lebenswerten Leben träumen -
und nicht nur vom knappen über-leben.
„Lebe deinen Traum!“  - ja.
Die sich im Süden auf den Weg machen,
leben den Traum vom guten Leben in Europa.
Auch wenn dieser Traum weitreichende
politische Diskussionen und Probleme nach sich zieht
und auch uns daran erinnert,
dass sich den Ort der Geburt niemand aussuchen kann:
Wenn die Menschen sich nicht auf den Weg machen,
wären sie irgendwann tot.
Gestorben im gnadenlosen Verteilkampf
um Wasser und Nahrung.
Und gestorben im alltäglichen Kampf
gegen Hitze und die Folgen
einer lebensfeindlichen Klimapolitik.
Sie leben ihren Traum um zu über-leben.

X.                  Anders leben

Nicht alle Träume erfüllen sich.
Und manche enden ganz anders,
als sie begonnen haben.
Bei Josef war es so:

Herodes war gestorben. Da erschien Josef in  Ägypten im Traum ein Engel des Herrn. Der sagte: »Steh auf! Nimm das Kind und seine Mutter und geh in das Land Israel! Denn alle, die das Kind umbringen wollten, sind tot.« Josef stand auf, nahm das Kind und seine Mutter und kehrte in das Land Israel zurück.

„…lebe deinen Traum!“
Josef brachte seine Familie heil wieder zurück.
Dass das ganze Abenteuer gut ausgeht,
wusste er erst am Ende,
als er wieder zu Hause war.

Manchmal geht es anders aus, als man denkt und hofft.
Anfang der 80er Jahre nutzte
der Frankfurter Stadtjugendpfarrer Martin Jürges
sein Pfarrhaus nicht nur zum Wohnen
für sich selbst und seine Familie.
Er öffnete es auch für andere.
Seinen Keller stellte als Probenraum
für eine neu gegründete Jugendband zur Verfügung.
Eine Wohnung im 4. Stock diente als WG
für eine Gruppe gestrandeter Jugendlicher,
die sich „Kaputtnix“ nannte.
Eines Abends haben Pfarrer Martin Jürges
und Eugen Eckert,
der zur Band aus dem Keller gehörte,
zwei dieser Jugendlichen
im letzten Moment noch festhalten können.
Sie wollten aus einem Fenster im 4. Stock
in den sicheren Tod springen.
Berührt von diesem Geschehen
griff nur wenige Wochen später
die Vorbereitungsgruppe für den Stadtjugendgottesdienst
die Frage nach dem Sinn des Lebens auf.
Eugen Eckert schrieb das Lied
„Halte deine Träume fest“
als Mottolied für den nächsten Gottesdienst.
Es wurde von da an das Lied
einer Bewegung um Martin Jürges.
Als Friedensaktivist
und sozial überaus engagierter Pfarrer
war er weithin bekannt.
Sein Traum von einer friedlichen
und sozialen Welt war ansteckend
und viele engagierten sich in seiner Gemeinde.
Umso tragischer war,
dass er und seine Familie im Mai 1983
durch herabfallende Wrackteile eines
verunglückten Kampfflugzeugs
bei einer Flugvorführung
ums Leben kamen.
Auch bei der Beerdigung
von Martin Jürges und seiner Familie
wurde das Lied „Halte deine Träume fest“ gesungen.
Das Lied und seine Geschichte
ist auch ein Vermächtnis an uns:
Aus dem damaligen Pfarrhaus-Projekt
und der Erfahrung mit der WG „Kaputtnix“
entstand die Band HABAKUK -
und viele der Lieder,
die bis heute in vielen Gemeinden
und bei Kirchentagen gesungen werden.
Wir jetzt auch:

Halte deine Träume fest,
lerne sie zu leben.
Gegen zu viel Sicherheit,
gegen Ausweglosigkeit:
halte deine Träume fest.       Amen.


Sonntag, 9. April 2023

Zwischenzeit

 


„In der Zwischenzeit ist ganz schön viel passiert!“
Jesus sitzt am Küchentisch. Vor ihm eine dampfende Tasse Kaffee, ein Stück Hefezopf und die Zeitung. In der liest er aufmerksam.
Es ist nicht so, dass Jesus eine Zeitung nötig gehabt hätte.
Schließlich ist er Gott und hat deshalb den Überblick über die Geschehnisse in Raum und Zeit - und es deshalb gar nicht nötig, jeden Tag über irgendwelche Dinge zu lesen, die in der Welt passieren. Aber Jesus liest trotzdem gerne Zeitung. Laut. Und er kichert dabei. „Tischtennis-Landesklasse. TSV Wendlingen 9:3 gegen den TGV Roßwälden. Läuft bei denen!“. Jesus nickt anerkennend.
„In der Zwischenzeit hat sogar der VfB mal gewonnen. 1:0 gegen Nürnberg. Das ist ja wohl mindestens bemerkenswert!“ Seraffiel lehnt für Engelsverhältnisse betont lässig im Türrahmen und hält sich an der Kaffeetasse fest. „Bisschen Auferstehung hat noch keinem geschadet, auch dem VfB nicht.“
„Korrekt!“ Jesus nickt anerkennend. „Es ist schon gut, dass die Menschen in der Zwischenzeit gelernt haben, auch kleine Erfolge zu feiern und wertzuschätzen.“
„Ach, deshalb bist du nicht frustriert?“
„Warum sollte ich frustriert sein?“ Jesus blickt den Engel erstaunt an.
„Weil sich kein Mensch 
mehr,“ so erklärt der Engel, „für die Kirche interessiert, für den Glauben. Und für dich schon gleich gar nicht! Dabei hast du doch alles gegeben! Aber: die kommen offensichtlich auch ohne Dich klar.“
„Stimmt!“ Jesus nickt zustimmend. „Ich hab alles gegeben. Aber wo genau ist jetzt dein Problem?“
„Lies doch mal: Die Zeit der Konfessionen geht zu Ende. Mit dem christlichen Gehalt des Osterfestes wissen viele Menschen nichts mehr anzufangen. Hier steht es schwarz auf weiß.“
„Konnten sie es damals?“ Jesus schaut Seraffiel irritiert an. „Immerhin musstest du als großer Fürchte-dich nicht-Engel erst mal hart durchgreifen, damit nicht alle davonrennen.“
Seraffiel atmet tief ein und aus. Und erinnert sich an damals, als Jesus zum ersten Mal auferstanden war und die Frauen ihn angesehen hatten, als hätten sie es mit einem Alien zu tun.
„Das war ja auch… äh… echt ne harte Nummer. Die wussten das doch gar nicht, dass du nicht tot sein würdest!“
„Stimmt. Aber auch damals war nicht allen klar, was sie mir bedeuten. Deshalb brauchte ich dich. Um den Menschen zu helfen, die Situation richtig einzuordnen.“ „Und heute??“ Seraffiel schenkt Kaffee nach. „Muss ich heute auch noch helfen, die Situation einzuordnen?“
„Natürlich. In der Zwischenzeit mag sich zwar vieles verändert haben in dieser Welt. Aber eines ist kein bisschen anders. Nämlich, dass mir diese Menschen sehr viel bedeuten.“ 
Jetzt schaut Seraffiel genervt und redet sich in Rage. „Jetzt dreh das doch nicht immer alles um! Du kannst die Menschen noch so sehr lieben! DU bedeutest den Menschen nichts! Oder nicht mehr viel! Du kannst sie noch so sehr lieben – wenn sie dich nicht zurück lieben – dann ist das doch völlig sinnlos!“
„Nein, es ist nicht sinnlos.“ Jesus bleibt überraschend ruhig. „Meine Liebe zu den Menschen ist nicht an Bedingungen geknüpft. Noch nicht mal daran, dass sie erwidert wird. Und deshalb kann ich sie auch nicht zwingen, an irgendetwas zu glauben. Egal, welche Religion.“
Seraffiel hat sich wieder einigermaßen im Griff, aber wenn sie jetzt schon dabei sind, dann will er dieses Thema mit Jesus ausdiskutieren.
„Aber was ist mit dem ganzen Schmerz? Mit dem Leid? Mit den ganzen Schlagzeilen, die die Menschen runterziehen? Eine tote 10jährige in der Jugendhilfe-Einrichtung. Fachkräftemangel in der Pflege. Klimaerwärmung, Krieg, Tod und Teufel. Herrgott nochmal! Da frag ich mich wirklich, was mein ‚Fürchte dich nicht‘ da noch bringen soll!“ Genervt schlägt Seraffiel etwas unengelhaft mit der flachen Hand auf den Küchentisch.
Das bringt Jesus allerdings nicht aus der Ruhe: „Ich kenn das. Sagt doch niemand, dass in der Zwischenzeit alles gut geworden ist. Ich mach das doch mit den Menschen alles mit. Glaubst du, ich wüsste nicht, wie sich all das anfühlt?
„Schon klar!“ erwidert der Engel. „Ich weiß, du bist der Einzige, der der da vollumfänglich mitreden kann.“
Und Jesus fügt hinzu: „Und ich bin der Einzige, der zuverlässig weiß, dass nach dem Tod nicht das Ende ist.“ Jesus steht auf und legt Seraffiel die Hand auf die Schulter. 
„Weißt du, Seraffiel, wir leben jetzt in der Zwischenzeit. Und deshalb sehen die Menschen alles wie durch verspiegeltes Glas als dunkles Bild. Sie sind noch gar nicht in der Lage, all das zu begreifen, was um sie herum ist. Aber eines Tages werden sie sehen, wie alles wirklich ist und wie die Dinge miteinander zusammenhängen. Jetzt erkennen sie nur stückweise, wie das mit dem neuen Leben einmal sein wird; am Ende aber werden sie mich erkennen und verstehen, wie alles wirklich ist. Bis dahin brauchen die Menschen dich. Dein Fürchte-dich-nicht. Und deinen Blick für kleinen Auferstehungswunder im Alltag.“ 
Seraffiel schaut nachdenklich aus dem Fenster, während Jesus sich wieder seiner Zeitung zuwendet.Über sein Gesicht huscht ein Lächeln, als er laut vorliest: „Vom Flüchtling zum Bürgermeister. Ryyan Alshebl floh 2015 über das Mittelmeer aus Syrien nach Deutschland. Er wird er Bürgermeister in Ostelsheim und der erste Rathauschef mit syrischen Wurzeln in Baden-Württemberg.“
„Das hätte sich vor ein paar Jahren noch niemand vorstellen können.“
stellt Seraffiel fest.
„Siehst du, Seraffiel, die Menschen können also durchaus unterscheiden, ob ihnen ein Fürchte-dich-nicht-Engel etwas ins Herz legt oder Hui-Buh, das Schlossgespenst. Du hattest da doch die Finger im Spiel?“
Seraffiel grinst. „Natürlich. Und beim VfB auch.“
 

Dienstag, 4. April 2023

Passion klingt anders: Durch die Nacht (Silbermond)

Durch die Nacht (Silbermond) 
Foto: Unsplash

Passionsandacht
Eusebiuskirche 
04. April 2023


Die Nacht,
sie lässt sich nicht ausknipsen.
Nicht im Kopf, nicht im Herzen.
Schon gleich gar nicht diese Nacht.
Eine Nacht in der man die Hand nicht vor Augen
und den Schleier nicht vor der Seele sieht.
Eine Nacht, von der man nur weiß, dass sie ist.
Ich bin ein Teil von ihr.                                         
Und die Nacht ist ein Teil von mir.                      
Und ihr Ende ist noch nicht in Sicht.  


Die Nacht,
sie knipst alles andere aus.
Die Welt verschwindet im Nichts.
Was anderswo stattfindet,
spielt keine Rolle.
Was geschieht, geschieht hier.
Bei mir. Mit mir. In mir.
Ich bin die Welt in dieser Nacht.   
Die Stille ist ohrenbetäubend.
Sie wird durchbrochen
durch das Zirpen von Grillen
und das Knacken alter Bäume im Wind.
Nacht in Gethsemane. 

Diese Nacht,
sie verändert alle.

Jesus.
Petrus, Johannes und Jakobus.  
Mich.

Ich lese aus dem Matthäusevangelium, Kapitel 26

Da kam Jesus mit ihnen zu einem Garten,
der hieß Gethsemane, und sprach zu den Jüngern:
Setzt euch hierher, solange ich dorthin gehe und bete.
Und er nahm mit sich Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus
und fing an zu trauern und zu zagen.
Da sprach Jesus zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis an den Tod;
bleibt hier und wachet mit mir!
Und er ging ein wenig weiter, fiel nieder auf sein Angesicht
und betete und sprach:
Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber;
doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst!
Und er kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend und sprach zu Petrus: Konntet ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?
Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt!
Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach.
Zum zweiten Mal ging er wieder hin, betete und sprach:
Mein Vater, ist’s nicht möglich, dass dieser Kelch vorübergehe,
ohne dass ich ihn trinke, so geschehe dein Wille!
Und er kam und fand sie abermals schlafend,
und ihre Augen waren voller Schlaf.
Und er ließ sie und ging wieder hin
und betete zum dritten Mal und redete
abermals dieselben Worte.
Dann kam er zu den Jüngern und sprach zu ihnen: 
Ach, wollt ihr weiterschlafen und ruhen?
Siehe, die Stunde ist da, dass der Menschensohn
in die Hände der Sünder überantwortet wird.
Steht auf, lasst uns gehen!
Siehe, er ist da, der mich verrät.

 

Die Nacht, sie lässt sich nicht ausknipsen.
Nicht für Jesus.
Er weiß um die Bedeutung der Nacht.
Und er weiß, dass die Nacht der Welt begonnen hat.
Die Nacht der Welt, die zugleich seine Nacht ist.
Die Nacht in Gethsemane,
in der er ganz Mensch ist.
Angst hat. Betrübt ist bis in den Tod.
und am liebsten weglaufen will vor dem, was kommt.
Die Nacht in Gethsemane,
in der er trotz allem weiß,
dass es nicht in seiner Macht steht,
was mit ihm geschieht.
Die Nacht, in der er sich selbst ausliefert.
Seinem Vater: Nicht, wie ich will, sondern wie du willst.


Ich will weg von hier                                                
Doch ich weiß, egal, wohin ich lauf'
Das mit dir hört nich' auf
Sag mir, wann hört das auf
Und ich kämpf' mich durch die Nacht
hab' keine Ahnung, was du mit mir machst
Ich krieg' dich nich' aus meinem Kopf und dabei will ich doch
(Silbermond) 

Die Nacht, sie lässt sich nicht ausknipsen.
Nicht für Petrus, Johannes und Jakobus.
Drei Männer, die bei Jesus sind.
Sie haben einen Job zu machen:
Sitzen – bei ihrem Freund.
Wachen und beten.
Und die Nacht mit aushalten,
während sich Jesus durch seine Nacht kämpft.
Gar nicht so einfach, diese Arbeit:
Sitzen und die Nacht mit aushalten.
Es ist nicht nur die Nacht in Gethsemane.
Es ist auch die Nacht ihrer Welt.  
Sie kämpfen gegen die Dunkelheit in der Seele und im Herzen.
Gegen die Müdigkeit und die Schwere des Mitaushaltens.
Sie kämpfen sich durch die Nacht,
um dabei erschöpft einzuschlafen
und sich einzugestehen:
Der Geist ist willig,
aber das Fleisch ist schwach.
Wir schaffen diese Nacht nicht.
Diese Nacht schafft uns.

Alles würde sich verändern, wenn ich dich nich' mehr wiederseh'
Ich will weg von hier
Doch ich weiß, egal, wohin ich lauf'
Das mit dir hört nich' auf
Sag mir, wann hört das auf
Und ich kämpf' mich durch die Nacht
Hab' keine Ahnung, was du mit mir machst
Ich krieg' dich nich' aus meinem Kopf und dabei will ich doch
Und ich kämpf' mich durch die Nacht
Bin unter Tränen wieder aufgewacht
Ich krieg' dich nich' aus meinem Kopf und dabei muss ich doch 

Die Nacht lässt sich nicht ausknipsen.
Nicht die Nacht in Gethsemane
und nicht die Nacht auf Golgatha.
Auch nicht die Nacht in den Seelen vieler.
Nicht die Nacht in meiner Seele.
Und ich kämpf' mich durch die Nacht
Bin unter Tränen wieder aufgewacht.

Viele Nächte sind seither
gekommen und gegangen.
Viele Nächte wurden
seit jener Nacht in Gethsemane
durchwacht und durchkämpft. 
Viele Nächte sind es
Nacht für Nacht
und Tag für Tag.   


Nächte an Krankenbetten und über Abschiedsbriefen.  
Nächte in Bunkern unter zerstörten Städten.
Nächte in Kasernen und an Regierungstischen.
Nächte in missbrauchten Kinderseelen und
Nächte in einsamen Herzen.
Nächte über dem Kontoauszug.
Nächte im aufblasbaren Gummiboot zwischen Benzin und Fäkalien und
Nächte in den Gedanken derer, die wissen:
meine Liebsten sind da draußen auf dem Mittelmeer.
Nächte in der Unfallchirurgie und
Nächte am Bett der Intensivstation.

Die Nacht lässt sich nicht ausknipsen.
Nicht die Nacht in dieser Welt und
nicht die Nächte in meiner Seele.

Nächte sind lang,
wenn ich nichts ändern kann an der Situation.
Nächte sind lang,
wenn ich mit meinem Innersten alleine bin,
und die dünnhäutigen Stellen immer mehr werden.
Wenn ich mir Fragen stelle, auf die niemand eine Antwort hat.
Und wenn etwas in mir so zerbrochen ist,
dass es kaum mehr gut werden kann.
Nächte sind lang, wenn da niemand ist,
der mit mir wach bleibt
und aushält
und meinen Schmerz mit erträgt. 

Für Jesus war diese Nacht lang.
Drei Mal hat er seinen ganzen Schmerz
in Worte gefasst.
Drei Mal hat er sich gewünscht, nicht alleine
in der Nacht ausharren zu müssen.
Und doch:
Drei Mal musste er feststellen: Es war zu viel.
Zu viel für diese Freunde, die mit ihm waren –
und die ihn dann doch in seinem Schmerz allein ließen.

Für Petrus, Johannes und Jakobus war diese Nacht lang.  
Drei Mal haben sie versucht,
zu tun, was Jesus ihnen gesagt hat:
zu wachen und zu beten.
Drei Mal haben sie angekämpft gegen die Müdigkeit
und gegen die Schwere ihrer Augenlider.
Drei Mal hat Jesus sie schlafend vorgefunden.  
Drei Mal sind sie gescheitert an ihrer Aufgabe,
der Nacht die Stirn zu bieten. 

Drei Mal.  
Drei Mal, nach denen Jesus hätte sagen können:
Wisst ihr was? Ich machs alleine.
Ich kämpf mich alleine weiter durch die Nacht.
Wer sich auf euch verlässt, ist verlassen.
Aber das tut Jesus nicht.
Jesus lässt Petrus, Johannes und Jakobus
nicht in der Nacht zurück.
Es ist ein kleiner Satz,
der unscheinbar zwischen zwei großen Sätzen steht:
„Steht auf, lasst uns gehen!“

Jesus nimmt seine Freunde mit auf den Weg.
Wissend darum, dass er bald verhaftet wird -
und einer bereit ist, ihn zu verraten.

„Steht auf, lasst uns gehen“.

Jesus traut seinen Jüngern viel zu.
Oder müssten wir nicht sagen:
Er mutet ihnen viel zu?

Es ist eine Momentaufnahme.
Im Rückspiegel wissen wir,
dass alles, was danach kam, noch viel schlimmer wurde. 

„Steht auf, lasst uns gehen.“:
ein kleiner Satz, der eine
ausweglos scheinende Situation auflöst.
Ich glaube, dieser Satz kann mehr,
als man ihm im ersten Moment zutraut.
Es ist ein Satz für viele Nächte,
nicht nur die von Jesus, Petrus, Johannes und Jakobus.
Es ist auch ein Satz für die Nächte von uns allen.  
„Steht auf, lasst uns gehen!“,
das bedeutet für mich:
Ich will nicht mehr verharren in der Nacht
und in der Situation, die weh tut.
„Steht auf, lasst uns gehen!“,
das bedeutet für mich:
ich bin nicht alleine. Andere sind mit mir.
Sind mit mir - mit dem ganzen Schmerz und den Sorgen.
Und mit diesen ganzen Gefühlen.
Sie alle kennen die Nacht.
Wie Jesus.
Wie Petrus, Johannes und Jakobus
in der Nacht in Gethsemane.
Wie ich.
Und deshalb:
„Steht auf, lasst uns gehen.“
im Vertrauen darauf:
egal, wohin ich lauf'
das mit dir hört nich' auf
Damals nicht
in Gethsemane und auf Golgatha.
Und heute auch nicht.

Amen.







Freitag, 30. Dezember 2022

Ökosystem Himmelreich 2022

Gottesdienst
in der Jakobskirche Bodelshofen
am 31.12.2022

Rö 8,31b-39 / Mt 13, 24-30

Leben: Monokultur oder
biologisch-dynamischer Ackerbau?
Ein Rückblick
auf das Ökosystem
„Himmelreich 2022“



Das Gleichnis vom Unkraut zwischen dem Weizen

Jesus erzählte der Volksmenge noch ein weiteres Gleichnis:
»Mit dem Himmelreich ist es wie bei einem Bauern,
der auf seinen Acker guten Samen aussäte. Als alle schliefen, kam sein Feind.
Er säte Unkraut zwischen den Weizen und verschwand wieder.
Der Weizen wuchs hoch und setzte Ähren an.
Da war auch das Unkraut zwischen dem Weizen zu erkennen.
Die Feldarbeiter gingen zum Bauern und fragten ihn:
›Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät?
Woher kommt dann das Unkraut auf dem Feld?‹
Er antwortete: ›Das hat mein Feind getan.‹
Die Arbeiter sagten zu ihm:
›Willst du, dass wir auf das Feld gehen und das Unkraut ausreißen?
‹ Aber er antwortete: ›Tut das nicht, sonst reißt ihr
zusammen mit dem Unkraut auch den Weizen aus!
Lasst beides bis zur Ernte wachsen.
Dann werde ich den Erntearbeitern sagen:
Sammelt zuerst das Unkraut ein!
Bindet es zu Bündeln zusammen, damit es verbrannt werden kann.
Aber den Weizen bringt in meine Scheune.‹«
(Matthäus 13,24-30)


I.                   Himmelreich 2022

Es war einmal das Jahr 2022.
Und mit dem Jahr 2022 ist es wie mit dem Himmelreich.  
Und ich bin Teil davon – und mein Leben auch.
Und ihr seid Teil davon – und euer Leben auch.  
Und das Leben aller anderen auch.
Es war einmal
das Himmelreich 2022.
Von dem Jesus spricht, als sei es ein Acker,
der im letzten Jahr bewirtschaftet wurde:
gepflügt und umgegraben und gedüngt.
Es wurde gesät.
Um Regen gebeten und von Hand gegossen,
weil Regen lange ausblieb.
Gewartet wurde auch, teils lange und viel
bis die ersten grünen Spitzen
durch die krümelige Erde brechen.
Und wieder wurde gedüngt. Gehackt.
Auf Sonne gewartet und auf den Regen.
Gebangt und gehofft wurde nach Starkregen und Hagel
dass aufersteht, was niedergedrückt war.
Gewachsen ist Jahr und Himmelreich.
Weizen und Unkraut.
Gutes und Böses.
Hilfreiches und Schweres.

Mit dem Himmelreich aber ist es
wie bei einem Bauern,
der auf seinen Acker guten Samen aussäte.   

 

II.                Weizen

Gute Samen, und sie sind gewachsen
und groß geworden im letzten Jahr.
Im Himmelreich 2022 wurde geliebt,
umarmt und geküsst.
Lieblingsmenschen wurden sehnlichst erwartet
und neue Menschen geboren.
Neuanfänge und Versöhnungen wurden gefeiert
und alte Zöpfe erleichtert abgeschnitten.
Viele schöne Stunden wurden wahr
in diesem Himmelreich 
mit Wein und Abendrot
mit Musik und Tanz
und Lachen
und mit dem Duft von frisch gebackenem Brot.
Erfolge wurden gefeiert
mit Konfetti und
Sprühnebel von Champagner in der Luft.
Neue Häuser und Wohnungen wurden gefunden
und es wurde vor Erleichterung tief durchgeatmet.
Denn da wurde nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern Heimat.
Schutzengel waren unterwegs. Viele.
Und Freunde waren da.
Der blühende Kirschbaum.
Hoffnung.
Und das Lachen der Kinder auf der Schaukel.

Der Weizen aber wuchs hoch und setzte Ähren an
im Himmelreich 2022. 

III.             Unkraut  

Als alle schliefen, kam der Feind.
Er säte Unkraut zwischen den Weizen
und verschwand wieder.
Da war auch das Unkraut zwischen dem Weizen zu erkennen.
 

Unkraut 2022.
Der Streit mit den Nachbarn, Corona,
Querdenker-Diskussionen am eigenen Küchentisch
und die miese Laune des Mitbewohners.
Die überfahrene Katze.
Trennung und Depression.
Einsamkeit.  
Rote Zahlen auf dem Konto.
Krebsdiagnose, Beinbruch
und Kopfschmerzen vom Stress. 
Der Verlust der Arbeit,
ein falscher Aktienkauf,
der Unfall des Freundes.
Krieg in Europa.
Schlaflose Nächte aus Sorge vor Strom- und Gasrechnungen.
Ertrunkene Geflüchtete im Mittelmeer.
Waldbrände in Brandenburg.
Der Tod von Hagrid und der Queen,
Vivian Westwood und Pelé.
Und heute früh auch noch der Papst. 
Explodierte Gaspipelines,
eine Ehrenrunde in Klasse 10 und
die Delle im Auto inklusive Fahrerflucht.
Eine rechtspopulistischen Regierung in Italien,
die Übernahme von Twitter durch Elon Musk
und die Magen-Darm-Grippe
pünktlich zu Weihnachten auch.

Die Feldarbeiter gingen zum Bauern und fragten ihn:
„Herr hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät?
Woher kommt dann das Unkraut auf dem Feld?“
Er antwortete: „Das hat mein Feind getan.“
 

IV.            Monokultur


Wo Weizen gesät ist, soll Weizen geerntet werden.
Deshalb wäre es doch viel besser,
wenn da nur Weizen wachsen würde.
Keine Schlingpflanzen, kein Löwenzahn.
Und vor allem: keine Disteln.
Nur Weizen. Das macht am wenigsten Arbeit.
Nichts aussortieren müssen. Nur Ernten.
Nur das Leben genießen.
Keine Verunreinigungen, die den Ertrag schmälern
und den Marktwert der Ernte senken.
Weizen als Monokultur - und alles ist gut.
Kein Unkraut, keine nervige Zusatzarbeit,
keine Energieverschwendung.
Volle Ertragseffizienz in Sachen perfektes Leben:
Ach Bauer, das wär doch
das perfekte Himmelreich 2022 gewesen.
Und das wäre es auch für
das Himmelreich 2023 und alle,
die da noch kommen.
Die Feldarbeiter fragten ihn:

„Willst du, dass wir auf das Feld gehen und das Unkraut ausreißen?“
Aber er antwortete:
„Tut das nicht, sonst reißt ihr zusammen mit dem Unkraut auch den Weizen aus!
Lasst beides bis zur Ernte wachsen!“

 

V.               Biologisch-dynamischer Ackerbau

Unkraut im Weizenfeld macht Landwirten Mühe.
Acker-Fuchsschwanz und Quecke,
Vogelmiere und Feld-Rittersporn –
all das gehört da nicht hin.

„Lasst beides bis zur Ernte wachsen!“

Vor meinem inneren Auge
sehe ich meine Oma Gretel auf Löwenzahnjagd.
Niemals hätte sie den stehen lassen,
bis der Wind die Schirmchen alle verteilt hat!
Niemals!

„Tut das nicht, sonst reißt ihr zusammen mit dem Unkraut auch den Weizen aus!
Lasst beides bis zur Ernte wachsen!“ 

Die Zeiten von „Round Up“ und
großangelegtem Kampf gegen das Böse
sind zumindest in der Landwirtschaft vorbei.
Man hat verstanden,
dass das Gute mit darunter leidet,
wenn man das Böse vernichtet.
Man hat genug Erfahrung, um zu sehen:
manches Unkraut ist zwar lästig.
Aber es sorgt dafür, dass sich der Boden lockert
und somit der Weizen besser wächst.
Und man weiß: wenn man geschickt kombiniert,
und Fruchtfolgen beim Anbau beachtet,
dann nimmt das Unkraut nicht überhand.

Lasst beides bis zur Ernte wachsen!

In der Landwirtschaft und im Leben
gehört beides zusammen:
Unkraut und Weizen.
Schwieriges und Schönes.
Tiefen und Höhen.
Und im Himmelreich auch.
Denn das eine gibt es
ohne das andere nicht.

VI.            Ökosystem Himmelreich

Das Himmelreich gleicht einem Ökosystem
und mein Leben auch.
Und das Jahr 2022
und all die Jahre die noch kommen.  
Da war
und wird sein
Böses und Gutes.
Hässliches und Schönes.
Unkraut und Weizen.

Nie das eine ohne das andere.
Am Ende wird Jesus sagen:

Sammelt zuerst das Unkraut ein!
Bindet es zu Bündeln zusammen,
damit es verbrannt werden kann.
Aber den Weizen bringt in meine Scheune.

Es ist nicht außer Kontrolle, das Unkraut.
Es wird auch nicht eingelagert
und niemand wird davon zehren.
In die Scheune kommt nur der Weizen -
aber erst am Ende
und nicht schon jetzt.

Bis dahin sind wir Feldarbeiter*innen.
Feldarbeiter*innen, die klarkommen müssen
mit dem, was da wächst -
Unkraut UND Weizen.

Feldarbeiter*innen,
die eines verstanden haben:
Unkraut gibt es nur,
weil es auch den Weizen gibt.
Und auch wenn das Unkraut
manchmal wuchert:
Am Ende bleibt der Weizen.  

Wir sind Feldarbeiter*innen,
die hacken und gießen,
und hegen und pflegen
den himmlischen Acker,
unser Leben.

Wir sind Feldarbeiter*innen
im Himmelreich
und sind gewiss,
dass weder Tod noch Leben,
noch Engel noch Mächte noch Gewalten,
weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges
weder Hohes noch Tiefes
noch irgendein anderes Unkraut
uns scheiden kann
von der Liebe Gottes,
die in Christus Jesus ist,
unserm Herrn.

Amen.