Mittwoch, 10. August 2022

Menschenskinder!

Predigt zur Sommerpredigtreihe
"Geflügelte Worte"
im Distrikt Unterer Neckar
Reudern 07.08.2022 
Unterensingen 14.08.2022


"Menschenskinder!" 

Und er sprach zu mir:
Du Menschenkind, stelle dich auf deine Füße, so will ich mit dir reden.
Und als er so mit mir redete, kam der Geist in mich und stellte mich auf meine Füße, und ich hörte dem zu, der mit mir redete.
Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, ich sende dich zu den abtrünnigen Israeliten und zu den Völkern,
die von mir abtrünnig geworden sind.
Sie und ihre Väter haben sich bis auf diesen heutigen Tag gegen mich aufgelehnt. 
Und die Kinder, zu denen ich dich sende, haben harte Köpfe und verstockte Herzen.
Zu denen sollst du sagen: »So spricht Gott der HERR!«
Sie gehorchen oder lassen es – denn sie sind ein Haus des Widerspruchs –,
dennoch sollen sie wissen, dass ein Prophet unter ihnen gewesen ist.
Und du, Menschenkind, sollst dich vor ihnen nicht fürchten noch vor ihren Worten fürchten.
Es sind wohl widerspenstige und stachlige Dornen um dich,
und du wohnst unter Skorpionen; aber du sollst dich nicht fürchten
vor ihren Worten und dich vor ihrem Angesicht nicht entsetzen –
denn sie sind ein Haus des Widerspruchs.
(Hesekiel 2,1-6) 

I. Menschenskinder

Menschenskinder!
Man möchte es immer wieder laut sagen:
Menschenskinder, jetzt hört mir doch mal zu!
Menschenskinder, jetzt räumt doch mal auf!
Menschenskinder, bringt doch mal den Müll raus,
geht mit dem Hund gassi,
bringt Oma das Essen und vor allem:
tut, was man euch sagt.
Menschenskinder!

Kennt man – oder?

Man kann diese Reihe nahezu endlos fortsetzen. 
Und wie sich das mit halbwegs korrekt genervtem Unterton anhört,
wissen wir auch.

Es ist ein alltäglicher Begriff für viele – auch für mich –
und in aller Regel verwende ich ihn,
wenn andere nicht so funktionieren,
wie ich mir das wünsche.
Wenn andere tun, was sie wollen.
Oder unzuverlässig sind. Oder ihren Job nicht machen.
Ich verwende ihn, wenn ich von meinem Gegenüber eine Reaktion erwarte
und die ausbleibt.
Oder diese Reaktion eben anders ausfällt,
als ich mir das erhoffe.
Und es ist ein Verstärker.
Beim ersten Mal sage ich:
„Bring den Müll raus!“
Beim zweiten Mal sage ich:
„Hast du nicht gehört: Du sollst den Müll rausbringen!“
Und wenn dann immer noch nichts passiert,
dann sage ich:
„Menschenskinder, jetzt bring doch mal den Müll raus!“

Es geht also ans Eingemachte.
„Menschenskinder“ heißt:
hier will jemand 100%ige Aufmerksamkeit.

 

II. Herrlichkeit  

Seine Aufmerksamkeit war zwangsläufig hoch.
Aber kann er auch ernst nehmen, was da passiert?
Hesekiel war sich im ersten Moment
möglicherweise nicht sehr sicher,
wie er das einschätzen soll:
Eine Vision von eher wirren Phantasiegestalten
zieht ihn in den Bann.
Menschen. Stierfüße, Adlerflügel,
halbe Löwengesichter,
Glut, Kohle, Räder mit Felgen voller Augen.
Getöse, wie in einem Heerlager,
Donner. Und ein Thron, auf dem einer sitzt,
der aussieht wie ein Mensch.
Ein Mensch, der glänzt und glitzert wie ein Regenbogen. 
So war die Herrlichkeit Gottes anzusehen. 

„Ist das Kunst oder kann das weg?“
Hesekiel war zwar Priester, aber ein göttlicher Auftritt dieser Art
gehörte bis dato nicht zu seinem spirituellen Erfahrungsschatz.
Das befremdet, insbesondere deshalb,
weil ihn diese Inszenierung anspricht -
im wahrsten Sinne des Wortes.

Von Mensch zu Mensch. Ganz direkt.
Hesekiel haut das aus den Latschen.

Du Menschenkind, stelle dich auf deine Füße,
so will ich mit dir reden.
Und als er so mit mir redete,
kam der Geist in mich und stellte mich auf meine Füße,
und ich hörte dem zu, der mit mir redete.


III. Es ist ernst!

Menschenskind,
Hesekiel stelle dich auf die Füße!
Ich will mit dir reden!
Gott meint es ernst.
Grundsätzlich eigentlich zuerst mit dem Volk Israel:
Ein Volk des Widerspruchs ist das,
so tönt die Stimme Gottes
aus der dieser sichtbaren Herrlichkeit.
Wie widerspenstige Dornen und
stachlige Skorpione sei es,
mit denen man nicht gemeinsame Sache machen sollte.
Oder auch: Meckerheinies und Querdullies,
denen mal einer sagen muss, wie der Hase läuft.

Gott meint es ernst.
Auch mit Hesekiel: einem Priester,
der seines Amtes walten soll.
Der dieses widerspenstige Volk überzeugen soll.
Überzeugen von Werten, die irgendwann einmal Konsens waren
für ein friedliches Zusammenleben.
Einer, der dafür einsteht,
dass Miteinander besser ist als Gegeneinander.
Einer, der vorlebt, dass Solidarität und Menschenfreundlichkeit
wichtiger sind, als rebellische Parolen.
Einer, der zu unterscheiden hilft,
zwischen berechtigter Kritik und primitiver Hetze.
Es geht also um einen Auftrag.
Und um einen, der ihn ausführt.
Der ihn ausführt,
muss wohl auch etwas ertragen können.
Denn die Ernsthaftigkeit dieser Ansprache
war im ersten Moment verstörend:
Hesekiel strandete auf nicht erklärbare Weise
in Tel-Abib und musste dort
sieben Tage lang mit Menschen zusammenleben,
die ihm vorher völlig fremd waren.
Was sie über diesen seltsamen, verstörten Priester dachten -
und ob Hesekiel verstörter war oder die Menschen dort - wissen wir nicht.
Jedenfalls „lag die Hand des Herrn schwer auf Hesekiel“.
Ernster geht vermutlich nicht.


IV. Haltung!

Stell dich auf die Füße, ich will mit dir reden!

Wie ernst ein Gespräch – und damit auch die Botschaft - genommen wird, entscheidet sich durch Haltung.
Körperhaltung.
„Stell dich auf die Füße!“

Ob ich aufrecht vor meiner Gesprächspartnerin stehe -
oder im Sitzsack gammle, das macht einen Unterschied.
Ob ich im Schneidersitz auf dem Boden sitze - 
oder mit aufrechter Haltung am Tisch:
Körperhaltung ist entscheidend für den Gesprächsverlauf.

Ob Hesekiel mit dem Gesicht im Staub liegt -
oder Aufrecht steht und Gott in die Augen schaut,
ist keine Nebensächlichkeit.

Körperhaltung schafft Aufmerksamkeit.
Körperhaltung entscheidet über Macht oder Ohnmacht.
Über Respekt oder Gleichgültigkeit.
Körperhaltung schafft einen wahrnehmbaren Unterschied.

„Stell dich auf die Füße!“
Das heißt soviel wie:
Komm auf Augenhöhe!
Unterwirf dich nicht!
Sei mir ein Gegenüber!

Sei ein Mensch!
Sei mein Ebenbild,
das du seit dem 6. Tag der Schöpfung bist!
Und deshalb: sei mächtig!
Übernimm Verantwortung!
Aber bleib abhängig von mir, Menschenkind!
Sei Kind und lass dir einen Auftrag erteilen -
aber dann sei ganz erwachsen und mir ebenbürtig.
Und tu‘, was deine Aufgabe ist.
Mit aufrechtem Gang und beiden Beinen auf der Erde.

Körperhaltung schafft Realität.

V. Auftrag

Hesekiels Auftrag war nicht leicht.
Und ehrlich gesagt auch ein bisschen irre.
Verrückte Dinge sollte er tun. Zeichenhandlungen.
Demonstrationen, um auf sich aufmerksam zu machen
und die Botschaft verständlich.
Denn dieses Volk mit seinem Protestgehabe,
seinen Kriegereien und Eifersüchteleien
war weitestgehend mit sich selbst beschäftigt.
Eines Tages sollte Hesekiel seine Haare und
seinen Bart mit dem Schwert scheren.
Anschließend verbrannte er
ein Drittel der Haare in der Stadt.
Ein weiteres Drittel schnitt er mit dem Schwert klein
und den Rest streute er in den Wind.
Eine symbolische Handlung.
Das Volk sollte verstehen, was mit ihm passieren würde:
es würde verbrennen und im Krieg zerstört werden -
und der Rest sich in alle Windrichtungen verteilen.
Eine unangenehme Botschaft.
Überbringer*innen unangenehmer Botschaften
haben es nicht leicht.
Damals nicht und heute auch nicht.
Sie brauchen Haltung und ein Mandat.
Manchmal ist das einzige Mandat, das von Gott:

Du Menschenkind, stelle dich auf deine Füße,
so will ich mit dir reden.
Und als er so mit mir redete,
kam der Geist in mich und stellte mich auf meine Füße,
und ich hörte dem zu, der mit mir redete.
Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, ich sende dich.

 

VI. Freiheit

Wer etwas zu sagen hat,
wer ein Mandat hat,
muss mit Widerspruch rechnen.
Widerspruch ist das, was einen freien Menschen auszeichnet.
Widerspruch ist auch das, was meinem Gegenüber zusteht,
wenn ich komme und sage:
Menschenskind,
stell dich auf deine Füße und hör mir zu!
Wer etwas zu sagen hat,
hat aber auch das Recht gehört zu werden.
Das Recht, gehört zu werden mit einer Botschaft,
die auch unbequem ist - und Komfortzonen in Frage stellt.
Auch das gehört zur Freiheit des Menschseins.
Und zur Freiheit des Ebenbildseins.
Deshalb weil wir Menschen auch einander Ebenbild sind.
Und nicht nur das Ebenbild Gottes.
Und deshalb ist es so fatal, was seit Menschengedenken
immer wieder passiert: 
Das Recht, gehört zu werden, wird in Frage gestellt.
Gesagtes wird bagatellisiert und ins Lächerliche gezogen.
Menschen werden für ihre Worte öffentlich verunglimpft,
eingeschüchtert und unter Druck gesetzt.
Heute durch die Macht der Medien in einer Geschwindigkeit,
die sich zur Zeit Hesekiels noch niemand ausmalen konnte.
Hesekiel wird „nur“ festgesetzt und mundtot gemacht.
Wenn das gelingt, sprechen wir von Diktatur -
und damit vom Ende der Freiheit.

Wieviel Widerspruch und Bagatellisierung musste sich 
Greta Thunberg gefallen lassen,
als sie 2018 begann, immer freitags
auf den Klimawandel aufmerksam zu machen?
Und wie wirkt diese Bagatellisierung heute -
angesichts der derzeitigen Hitzewelle,
der Brände und des Wassermangels?
Ist Greta auch eine Prophetin?

Oder, ganz aktuell: die Ärztin Lisa-Maria Kellermayr.
Was musste sie wohl ertragen?
Sie geriet ins Kreuzfeuer von rechtsradikalen Netzterroristen,
weil sie sich öffentlich für die Impfung gegen Corona aussprach.
Der Hass und die Hetze, die über sie hereinbrach,
nötigten sie zuerst, ihren Beruf aufzugeben
und vorletzte Woche dann auch ihr Leben.

Wer Menschen das Recht abspricht, gehört zu werden,
macht sich schuldig.
Wer Menschen das Recht abspricht, gehört zu werden,
nimmt aber nicht nur dem Gegenüber
die Würde des Menschseins,
sondern auch sich selbst.
Wo Menschen einander nicht zuhören,
endet Menschlichkeit.


VII. Leben

Deshalb:
Menschenskinder!
Stellt euch auf die Füße und
schaut euch in die Augen!

Menschenskinder!
Stellt euch auf die Füße und
teilt eure Ideen und Visionen,
aber auch eure Zweifel, Ängste und eure Fragen!

Menschenskinder!
Stellt euch auf die Füße und
widersprecht einander!
Streitet um die Sache und setzt euch auseinander
mit den Unterschiedlichkeiten des Lebens!
Aber hört einander zu.
Und gebt einander das Recht, gehört zu werden.

Menschenskinder!
Stellt euch auf die Füße und
seid menschlich zueinander.
Redet davon,
was ihr von Gott gesehen verstanden habt.
Singt davon, was euch hoffen lässt.

Und hört hin.
Hört hin, wenn jemand zu euch sagt:
Du Menschenkind,
stelle dich auf deine Füße,
ich will mit dir reden!
Es könnte Gott sein.
Amen. 



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