Sie fühlt sich gewappnet für Weihnachten: Stollen
gebacken, Fenster geputzt, Lichterkette entknotet und installiert, Karpfen
bestellt, Geschenke verpackt, Eisenbahn aufgebaut, Likör abgefüllt, Karten
geschrieben, Baum gekauft und Friseurtermin für morgen gebucht. Läuft also
weitgehend. Da war noch die kaputtgespielte Krippe… ach, das schafft sie heute
auch noch. Und doch: ein bisschen geht ihr die Luft aus. Also erst mal Musik
an, durchatmen und dann die Kiste vom Regal holen.
Die Kiste mit dem wertvollen Inhalt steht auf dem
Küchentisch, neben ihr eine Flasche Leim. Sorgfältig kontrolliert sie jede
Figur. Bis auf den alten Hirten ist tatsächlich alles in Ordnung. Aber der muss
geklebt werden. Der Arm ist ab. Sie hält inne. Zwischen all den Hirten Königen,
Engeln und Maria liegt ein kleiner Jesus in der Schachtel. Gerade mal so groß,
wie ihr Finger. Aus Holz geschnitzt und sehr nackt. Bis auf den kleinen
Schnipsel einer Mullbinde, die einmal als Windel um ihn herumgewickelt wurde.
Sie nimmt die Figur heraus. Ihre Hand fühlt sich riesig an. Und Jesus ist so
klein. Überrascht stellt sie fest: Im Gegensatz zu ihr ist dieser kleine Jesus
nicht gewappnet. Nicht für diese Welt. Nicht für dieses Leben zwischen Glitzer
und Geschenkpapierbergen, Lichterketten und Gebäckdosen. Jesus kam
unvorbereitet zur Welt. Eine ungeplante Schwangerschaft war das, wenn sie sich
richtig erinnert. Und in einem Stall geboren zu werden, war sicher kein
Vergnügen.
Sie setzt sich auf den Stuhl und ist seltsam berührt von dem Gedanken, dass
ihre anstrengenden Vorbereitungen für ein möglichst perfektes Weihnachtsfest
gar nichts mit diesem kleinen Baby-Jesus zu tun haben. Wenn sie ehrlich ist,
dann ist er so, wie sie sich grade selbst fühlt: verletzlich, zerbrechlich,
dünnhäutig. Und gar nicht weihnachtlich. Und ein bisschen ist es, als ob sie
jetzt diesen kleinen Jesus beschützt mit ihrer großen Hand. Beschützt vor
dieser lauten, bunten, perfekten Weihnachtswelt. Sie schluckt.
Nein, sie ist auch nicht gewappnet. Nicht für diese Situation, die sie
unerwartet berührt. Sie ist nicht gewappnet für eine Begegnung mit Gott, der
für sie bisher immer ein bisschen rätselhaft war. Und ziemlich weit weg. Jetzt
liegt er in ihrer Hand: Gott, dieses verletzliche, zerbrechliche, dünnhäutige Wesen.
Das Radio dudelt vor sich hin, während sie ihren Gedanken nachhängt. Ein paar
Wortfetzen einer weiblichen Stimme dringen zu ihr durch:
Wir haben die Wahl
Wir könnten auch mal was riskieren
Wir könnten uns verletzlich zeigen und die Hoffnung nicht verlieren
(Aus dem Album: Berge;
Für die Liebe; ©Dimitri Bortnianski / Gerd Koethe / Michael Kunze / Roland Heck)
Sie blickt den kleinen Jesus in ihrer Hand an. Stellt fest: Das
ist ein sehr hilfloser Gott. Dem Leben nicht gewappnet. Ein Kind – gerade mal
eine Hand voll. Und doch ist er der Heiland der Welt. Ein Gedanke schießt ihr
durch den Kopf: Vielleicht ist Hoffnung das einzige, mit dem wir uns wirklich
wappnen können. Vor ihrem inneren Auge sieht sie Bilder aus Israel und Gaza und
Syrien, vom Mittelmeer und aus der Ukraine. Kinder, Frauen, Männer. In Gedanken
ist sie auch bei dem Mann, der unten am See wohnt und der nur aus einer
Plastiktüte lebt. Sie hört das Lied nochmal an. Wir haben die Wahl tönt
es wieder aus dem Lautsprecher. Ja, ich
hab die Wahl, denkt sie laut. Weihnachten ist, wenn man mit Hoffnung gewappnet
ist. Sie legt den kleinen Jesus wieder zurück zu den anderen Figuren. Daneben
liegt der alte Hirte. Der Leim muss noch trocknen, aber dann ist er wieder
heil. Auch wenn der Lack ab ist.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen