Sonntag, 14. Juli 2024

Es reicht!


Es reicht!
2. Mose 16, 2-3 und 11-18   

Gottesdienst
im Johannesforum Wendlingen
und in der Jakobskirche Bodelshofen
am Sonntag, 14. Juli 2024 


I.                   Omas Küchentisch I

Für mich ist es eine der wichtigsten Kindheitserinnerungen:
Omas Küchentisch, um den wir alle saßen.
Immer samstags um halb vier.
Meine Brüder Martin und Simon,
meine Cousine Annette,
meine beiden Vettern Christoph und Thomas
und manchmal auch unsere Eltern
oder Helga
oder jemand anderes aus der Nachbarschaft.
Und natürlich Opa
auf seinem Platz an der Stirnseite.
Und ich auch,
auf der Eckbank zwischen den anderen.
Manchmal wir alle.
Und manchmal nur ein Teil von uns.
Und dann wurde aufgetischt von Oma.
Salzblaaz gabs immer.
Mit Schnittlauch und Kümmel.
Im Sommer Mirabellenkuchen
und im Winter Streuselkuchen.
Dazu Kaffee mit Würfelzucker
aus den weinroten Tassen,
gelben Sprudel
und im Herbst Süßmost
aus dem Senfglas mit Mogli.  
Immer samstags „um Halber“.
Nie war zu wenig auf dem Tisch.
Nie ging jemand hungrig nach Hause.
Es hat immer gereicht.

 

II.                Früher war alles besser!

Früher war alles besser!
Ja, damals, als wir noch
bei Oma am Küchentisch saßen.
Als wir uns die Bäuche vollschlugen
mit Salzblaaz und gelbem Sprudel
und Mirabellenkuchen
und Kaffee mit Würfelzucker.
Niemand von uns dachte damals daran,
dass es irgendwann anders sein würde.
Niemand hatte auf der Pfanne,
dass auch das Leben von Oma einmal
zu Ende sein würde,
und dann niemand mehr Kuchen backt.
Niemand von uns wusste,
wohin uns unser Leben führen würde
wenn wir älter werden –
und weggehen müssten.
Weg von Omas Küchentisch.
Was sich damals niemand vorstellen konnte.  
Verschiedenste Wege wurden daraus
im Lauf der Jahre.
Nicht alle waren einfach.
Aber alle wurden irgendwann gut.
Wenn wir uns sehen,
erinnern wir uns oft an Omas Küchentisch
und die guten, alten Zeiten.
Und manchmal sind wir traurig, dass sie vorbei sind.

 

III.             Volk Israel I

An die guten, alten Zeiten
erinnert sich auch das Volk Israel in der Wüste.
Es rottet sich gegen Mose und Aaron zusammen.
Sie murrten:

»Hätte der HERR uns doch getötet,
als wir noch in Ägypten waren!
Dort saßen wir vor vollen Fleischtöpfen
und konnten uns an Brot satt essen.
Aber ihr habt uns herausgeführt
und in diese Wüste gebracht,
damit die ganze Gemeinde verhungert!«

Es reicht!
Das Volk Israel hat keinen Bock mehr!
Sie fühlen sich von ihrer Regierung, Mose und Aaron,
an der Nase herumgeführt.
Eigentlich sollte doch alles besser werden,
wenn sie dieses fürchterliche Ägypten
erst mal verlassen haben.
Sklaven waren sie dort! Unfreie Menschen.
Und alles hätte besser werden müssen als das.
Aber nein, nun irren sie durch die Wüste
ohne Sinn und Ziel – und haben Hunger.
Man hat ihnen die Freiheit versprochen -
aber nun wartet der sichere Tod auf sie.
Ohne Nahrung kein Leben.
Die Wüste ist gnadenlos.

„Wären wir doch nur in Ägypten geblieben!“
Wer kann den Israeliten diesen Satz verübeln?
Sie hatten dort zu Essen und waren versorgt.
Was sie nicht hatten, war Freiheit.
Aber was ist Freiheit wert,
wenn man alle Sicherheit dafür aufgibt?
Was ist Freiheit wert,
wenn das Risiko zu sterben
höher ist, als die Chance zum Überleben?

Überfordert waren sie
und nörgelig.  
Und mit der Gesamtsituation unzufrieden.  

 

IV.            Es reicht!

Es reicht!
Das schreien die, die davon überzeugt sind:
Wir kommen zu kurz.
Und wenn die Aussage „Es reicht!“
gepaart ist mit Jammern und Murren
und der Überzeugung
„Früher war alles besser“,
dann passieren Dinge, die nicht gut sind.
Ein Blick in die Geschichte:
Das Ende der Weimarer Republik
war geprägt durch solche oder ähnliche Gesinnungen.
Inflation und das Gefühl von sozialer Ungerechtigkeit
führten zu großen Unruhen,
bis hin zu politischen Morden.
Der Aufschwung war vergessen,
der vergleichsweise hohe Lebensstandard bedroht.
Die Schere zwischen arm und reich
klaffte immer weiter auseinander
und die einst so gefeierte Freizügigkeit
wurde zur Bedrohung der nationalen Identität.
Wer bin ich eigentlich,
dass ich etwas von dem hergebe, was mit zusteht?

Es reicht!
So argumentieren auch die,
die neulich bei den Europawahlen
ihr Kreuz so gesetzt haben,
als wären sie in der Wüste.
Als müssten um ihr Überleben bangen.
„Es reicht!“ und
„Früher war alles besser!“
schreien Menschen auch heute und sagen,
dass die Mark mehr wert war als der Euro.
Oder dass die Renten früher sicherer waren,
und die Straßen auch.   
„Es reicht!“ und
„Früher war alles besser!“
schreit, wer ein Europa mit offenen Grenzen
als Bedrohung erlebt und Angst hat vor den vielen,
die zu uns kommen in der Hoffnung,
hier leben zu können.
„Es reicht!“ und
„Früher war alles besser!“
Schreien die, die in Freiheit leben
und doch Angst haben,
zu kurz zu kommen.
Angst davor haben, etwas zu verlieren,
das ihnen Sicherheit gibt.
Wie die Geschichte der Weimarer Republik ausgegangen ist,
wissen wir.
Dass sich Geschichte wiederholt,
wissen wir auch.
OB sich Geschichte wiederholt,
liegt in unserer Hand.
Und in den Händen aller,
die mit Freiheit größere Hoffnungen verbinden,  
als mit den vermeintlich sicheren
Fleischtöpfen Ägyptens.

V.                 Volk Israel II

Der HERR sagte zu Mose:
»Ich habe das Murren der Israeliten gehört und lasse ihnen sagen: ›Gegen Abend werdet ihr Fleisch zu essen bekommen und am Morgen so viel Brot, dass ihr satt werdet. Daran sollt ihr erkennen, dass ich der HERR, euer Gott, bin.‹«

Am Abend kamen Wachteln und ließen sich überall im Lager nieder, und am Morgen lag rings um das Lager Tau. Als der Tau verdunstet war, blieben auf dem Wüstenboden feine Körner zurück, die aussahen wie Reif. Als die Leute von Israel es sahen, sagten sie zueinander: »Was ist denn das?« Denn sie wussten nichts damit anzufangen. Mose aber erklärte ihnen: »Dies ist das Brot, mit dem der HERR euch am Leben erhalten wird.

Und er befiehlt euch: ›Sammelt davon, so viel ihr braucht, pro Person einen Krug voll. Jeder soll so viel sammeln, dass es für seine Familie ausreicht.‹«

Die Leute gingen und sammelten, die einen mehr, die andern weniger. Als sie es aber abmaßen, hatten die, die viel gesammelt hatten, nicht zu viel, und die, die wenig gesammelt hatten, nicht zu wenig. Jeder hatte gerade so viel gesammelt, wie er brauchte. 

 

VI.             Es reicht!

In der Wüste kann man überleben. 
Nicht automatisch.
Man muss dazu die Geheimnisse der Wüste kennen,
die Geheimnisse des Lebens,
und manchmal die des Über-lebens auch.
Dazu gehört auch, dass man sich denen anvertraut,
die in der Wüste zu Hause sind.
Die die Wasserquellen kennen
und auch die unsichtbaren
und vom Sand verwehten Wege.

Davon war das Volk Israel weit entfernt.
Mose und Aaron hatten zwar
eine Idee von Freiheit
und den Auftrag, die Menschen dahin zu führen,
aber aus der Sklaverei in die Wüste:
das sind schwierige Alternativen.  
IHR habt uns hierhergebracht.
IHR seid schuld an unserer Lage.
Die ganze Situation war heikel und drohte zu scheitern.
Das Volk war sauer.
Sauer, am Ende der Kraft,
und durchaus in Lebensgefahr.

Und dann passiert, was nicht vorhersehbar war.
Ein wütender, regierungskritischer Mob
macht eine Erfahrung: 
Aus einem erbosten „Es reicht!“
wurde ein erstauntes „Es reicht!“
Und zwar für alle!
Wachteln und Manna, Himmelsbrot.
Immer genau so viel,
dass an diesem Tag alle satt wurden.
So viel, dass es zum Leben reicht.
Und wer gierig mehr genommen hat,
als an einem Tag essbar ist,
dem verfaulte das Übrige.

 

VII.           Reality-Check

Wir sind nicht das Volk Israel in der Wüste.
Was damals passiert ist, ist längst Geschichte.
Aber wenn ich manche Diskussion
auf mich wirken lasse,
erinnert mich manches an diese Begebenheit.  
Wie schnell habe ich das Gefühl,
zu kurz zu kommen?

Das geht schon los beim Bäcker,
wenn die Wunsch-Brotsorte nicht da ist.
Oder im Café Freiheit,
wenn an manchen Montagen
über die Größe der Kuchenstücke diskutiert wird
und wieviel man dafür jetzt
in die Kasse wirft.

Und es geht hin bis zur Frage der Steuerentlastung.
Die jetzt mal jemand anderes im Geldbeutel spürt –
und ich nicht.

„Es reicht!“
Das ist so schnell gesagt!
Schnell, populistisch und oft ungeachtet
vieler anderer Aspekte, die auch wichtig sind.
So wie das Volk Israel in dieser Situation
vergessen hatte, dass sie jetzt in Freiheit sind.
Aber davor Sklaven waren. Unfreie.

Vielleicht hat es die Wüstenerfahrung
für die Israeliten gebraucht:
In der Wüste wurde aus einem populistischen
„Es reicht!“ ein überraschtes „Es reicht!“:
Eine Feststellung, dass für alles gesorgt ist.
Ein Staunen darüber, dass man
als Volk in der Wüste überleben kann,
wenn man aufeinander achtet.
Und sich jede*r nur das nimmt, was er*sie braucht.

 

VIII.       Omas Küchentisch II

Zurück zu Omas Küchentisch.
Dort wurde nicht nur gegessen,
es wurde auch viel erzählt.
Vor allem von Opa.
Von Wüstenerfahrungen,
die damals „Krieg“ und „Nachkriegszeit“ hießen.   
Zeiten, in denen man heute nicht wusste,
wovon man morgen satt werden sollte,
und ob man überhaupt noch am Leben war.
Geschichten von Flucht und Gefangenschaft,
vom Zu-Kurz-Kommen, von Unfreiheit
und von einem populistischen „Es reicht!“,
das Millionen Menschen das Leben kostete.

Diese Geschichten kamen zusammen
mit Salzblaaz, Mirabellenkuchen und gelbem Sprudel
an Omas Küchentisch.
Jahrelang, Samstag für Samstag.

Nein, es waren nicht nur Opas Geschichten.
Es war auch nicht nur Omas
voll gedeckter Tisch.
Beides zusammen war wichtig -
am Samstagnachmittag um halb vier
und bis heute.

Jetzt, viele Jahre später,
- beide leben beide längst nicht mehr -
meine ich eine Botschaft verstanden zu haben,
die sie uns – bewusst oder unbewusst -
mit auf den Weg gegeben haben:
„Es reicht!“ -  tatsächlich für alle.

Amen.

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