Sonntag, 28. Juli 2024

Psalm 150 - oder so ähnlich

 Worte nach Psalm 150 

Halleluja! Gott ist groß und überall.
Lobt Gott in euren Häusern und Kirchen.

Lobt Gott draußen unter dem großem Himmelszelt.

Lobt Gott, wenn ihr gemeinsam Gottesdienst feiert.

Lobt ihn, wenn ihr am Lagerfeuer sitzt
und zusammen singt.
Lobt ihn, wenn ihr auf dem Wasen
direkt vor der Bühne steht oder weiter hinten sitzt.

Lobt Gott, für alles, was er euch geschenkt hat.
Für Musik und Klänge: Leise und Laute.

Denn Gott ist groß.
Lobt Gott mit allen Instrumenten, die ihr spielen könnt. 
Lobt Gott mit Akustik- Gitarre und mit E-Bass!

Lobt Gott mit Schlagzeug und Rasseln!
Lobt Gott mit Glockenspiel und Blockflöte!

Lobt ihn mit Keyboard und mit Kontrabass!
Lobt ihn mit Saxophon und Tuba!

Lobt Gott mit Hiphop und mit Schlager!
Lobt Gott mit Hard Rock und mit klassischer Musik!
Und mit Liedern aus dem Gesangbuch lobt ihn auch.

Solange ihr atmen und singen und Töne von euch geben könnt:
Lobt Gott! Halleluja! 


Lord of the Lost: Blood and Glitter

Predigt zur 

Sommerpredigtreihe 2024 


I.                   Unser Lied

Ich sing dir mein Lied – 
in ihm klingt mein Leben.

Oder auch: Zeige mir deine Playlist –
und ich sage dir, wer du bist.

So steht es irgendwo in der
Ankündigung für diese Sommerpredigtreihe.
Der Eurovision Song Contest
jedes Jahr im Mai
ist auch so etwas wie eine „Playlist“.
Eine Playlist Europas.
„Unser Lied für den Eurovison Song Contest“ –
das ist das Motto jedes Frühjahr,
wenn die einzelnen Länder
ihre Lieder und Interpreten nominieren.
Und dann wird abgestimmt,
welches Land das beste Lied hat.
Das Lied, das ich ausgesucht habe,
war „unser Lied für Liverpool“.
Mit ihm ging im letzten Jahr Deutschland ins Rennen:
Lord oft the Lost – Herr der Verlorenen –
mit dem Titel „Blood and Glitter“.
Es ist auf dem letzten Platz gelandet.

Warum das so ist, weiß niemand so ganz genau.
Offenbar ist es ein Lied, das aus dem Rahmen fällt
und dazu auch eine Band, die aus dem Rahmen fällt.
Aus dem Rahmen des ESC,
aber auch aus dem Rahmen dessen,
was man von einer deutschen Band so erwartet.
Nach „Ein bisschen Frieden“,
„Guildo hat euch lieb“, „Wadde hadde dudde da“
und „Satellite“ war Blood and Glitter
ein Song, mit dem sich viele schwer getan haben. 
Ganz sicher sprengt er auch den Rahmen dessen,
was man in einer Kirche an Musik erwarten will.
Aber grade deshalb,
weil der Song ein Systemsprenger ist,
wurde er für mich interessant.
AUCH – oder erst recht für einen Gottesdienst.
 

II.                Der Song


 


 

Übersetzung: 

Blut und Glitzer, süß und bitter
Wir sind so glücklich, dass wir sterben könnten
Blut und Glitzer

Was wir sind, ist nur eine Entscheidung
Ein Versprechen an uns selbst
Wir sind frei, es zu brechen und uns zu ändern

Nie vergessen? Lass es gehen
Dies oder das? Das muss man nicht wissen
Ob oben oder unten
Wir sind alle vom selben Blut

Blut und Glitzer, süß und bitter
Wir sind so glücklich, dass wir sterben könnten
Blut und Glitzer, süß und bitter
Wir sind so glücklich, dass wir sterben könnten
Blut und Glitzer, Heiliger und Sünder
Wir fallen, bevor wir aufstehen

Jetzt geh, geh, lass dein Blut fließen, fließen
Mit gebrochenen Flügeln lernen wir fliegen
Wir sind Blut und Glitzer

Behalte den Kopf hoch in den Wolken
aber beide Beine auf dem Boden
Das Leben ist zu schnell, also mach was draus

Nie vergessen? Lass es gehen
Dies oder das? Das muss man nicht wissen
Ob oben oder unten
Wir sind alle vom selben Blut

Blut und Glitzer, süß und bitter
Wir sind so glücklich, dass wir sterben könnten
Blut und Glitzer, süß und bitter
Wir sind so glücklich, dass wir sterben könnten
Blut und Glitzer, Heiliger und Sünder
Wir fallen, bevor wir aufstehen… 


III.             Blut und Glitzer

Blut und Glitzer.
Starke Worte.
Starke Bilder.
Starke Gegensätze.
Und dann die Musik dazu: ebenso gegensätzlich.
Mal laut kreischend und schrill –
Und dann wieder ganz eingängig und melodisch.

Und die Menschen erst: 
Aufgestylt und geradezu verkleidet,
leichenblass, knallrot, goldglitzernd.
Irgendwas zwischen Gruftie und Harlekin,
Monster und Barbie.
Gegensätzliches
in jedem einzelnen Moment des Videoclips.
Eine theatralische, schrille, laute
und überwältigende Inszenierung.

Blood and Glitter
Süß und bitter
so glücklich, dass man sterben könnte.

Heilige und Sünder
Blut und Glitzer
hinfallen und aufstehen.
Widersprüchlicher geht es kaum.


IV.            Blut  I

Über Blut reden wir nicht gerne.
Fast alle empfinden eine natürliche Ekelgrenze,
wenn Blut sichtbar ist.
Aber klar ist auch:
In jedem von uns fließt es.
Auch in mir, In uns allen.
Dickflüssig und rot, wie nichts anderes.
Und wenn es sichtbar wird,
dann ist man in Gefahr.
In Lebens-Gefahr.
Blut hat seinen Ort und seine Funktion.
Es gehört in den Körper,
um uns am Leben zu erhalten.
In den Adern folgt es seinem Kreislauf
und das Herz gibt den Takt vor.
Wenn das Blut im Körper fließt,
ist der Mensch am Leben.
Wenn zu viel Blut aus dem Körper herausfließt.
kann ein Mensch sterben.
Deshalb ist Rot auch eine Warnfarbe:
Wenn zu viel Rot sichtbar wird,
besteht Lebensgefahr.
Fließendes Blut hat deshalb oft
einen Gruseleffekt.
Es schockiert,
macht Aufmerksam und
versetzt Menschen in Alarmbereitschaft.
Wenn Blut fließt,
Blut sichtbar ist,
geht es um die Frage
nach Leben oder Tod.

  

V.                Blut II

So auch in der Bibel. 
Auch da geht es um die Frage nach Leben oder Tod,
wenn von Blut die Rede ist.
Dahinter steckt die Vorstellung,  
dass Versöhnung mit Gott möglich ist,
wo Blut fließt.
Wo das eine Leben für das andere eintritt.
Weil Dinge wieder gut zu machen sind,
und das nicht einfach so passiert.

Eine der spannendsten Geschichten
ist wahrscheinlich die von Abraham und Isaak.
Abraham war dabei, seinen Sohn zu opfern,
als Gott dem Einhalt geboten hat:
er will kein Menschenopfer.
Gott sei Dank -
im wahrsten Sinne des Wortes.
Und dann Jesus.
Auch er greift diese Bild auf.
Gibt seinen Jüngern Wein mit den Worten
„Das ist mein Blut“.
Kurz darauf stirbt er - 
einen blutigen Tod am Kreuz.  


VI.            Glitzer I

Das krasse Gegenteil dazu: Glitzer.
Im Film goldene Schnipsel
eines leichten, durch die Luft wirbelnden Materials.
Kleine Fragmente, zusammenhanglos.
Nicht in geordneten Bahnen,
sondern durcheinander.
Schillernd. Das Licht reflektierend.
Glitzer spiegelt Licht und Farbe
und ist in alle Richtungen beweglich.
Glitzer macht das Leben leichter.
Wenn etwas glitzert,
dann ist das ein Grund zur Freude.
Kein Grund zur Panik oder gar eine Warnung.
Glitzern tut eine Prinzessin  
und Goldkrümel auf der Geburtstagstorte.
Es glitzert das nagelneue 2-Euro-Stück in der Sonne.
Es glitzert der Strandsand in der Sommersonne und
der Eiskristall in der Januarsonne auch.
Es glitzert der Diamantring am Finger und
die wunderschöne Kette am Hals der Braut.
Der Liedschatten mit Glitzer
macht ein Gesicht noch strahlender,
als ein normales Make Up.
Und wenn man sagt, dass die Augen glitzern,
dann ist man vor Freude so glücklich,
dass man ein Tränchen verdrücken muss.  
Mit Glitzer verbinden wir die wunderschönen
Dinge des Lebens.
Besondere Momente.
Highlights, die es nur selten gibt.
Und man sagt: Mit ein bisschen Glitzer,
wird der Alltag viel schöner.


VII.          Glitzer II

Auch die Bibel
kennt die schönen Dinge des Lebens.
Das Feiern und das Lachen
und das Heilige.

Die Bundeslade,
in der die heiligsten Dinge aufbewahrt wurden
war überzogen mit feinstem Gold.
Sie kennt das Glitzern und den Glanz
von Naturschauspielen und
Edelsteine und Perlen als Schmuck
für besondere Momente.
Und am Ende, wenn alles gut ist,
- auch das was nach menschlichem Ermessen
nie wieder gut werden kann –
(Jesus nennt es Himmelreich
und vergleicht es mit einer Perle)
dann wird auch da nicht gespart
mit Gold, Glitzer und Edelsteinen.
Bis es soweit ist
wird das Leben gefeiert.
Wird Wertvolles verschenkt –
auch dem Kind in der Krippe wird Gold gebracht.
Wird großzügig geschmückt –
sogar die Gräber.
Und es wird gefeiert –
manchmal sogar im Überfluss.

 

VIII.       Blut UND Glitzer

Blood and Glitter
Süß und bitter
- Zeilen voller Widersprüche.
Hinfallen, aufstehen,
zum Sterben glücklich -
so widersprüchlich kennt man das Leben.
Kennen Menschen das Leben.
Kennt die Bibel das Leben.
Und Jesus auch.
Blut und Glitzer gehören zusammen
und zum gleichen Leben.
Das Bedrohliche und das Wunderbare -
beides findet gleichzeitig statt
auf diesem Planeten:
Ein Kind wird geboren
und ein anderes kommt ums Leben.
Der eine ist vor Freude aus dem Häuschen
und die andere am Boden zerstört.
Und manchmal gehört beides
zu unserem eigenen, einzigartigen Leben.
Blut und Glitzer,
Süßes und Bitteres gleichzeitig.
Noch nie hab ich das so extrem wahrgenommen
wie in der Zeit, als meine Ehe zerbrochen ist.
Da ging was kaputt und war schmerzhaft und schlimm.
Und gleichzeitig konnte ich
wieder ich selbst werden –
und habe meinen eigenen Wert wieder entdeckt.
Aber eben nicht ohne einen schmerzhaften Verlust.
Seither ist einer meiner Lieblingssprüche:
Never lose your Sparkle -
verlier‘ dein Funkeln, dein Glitzern nicht.

Blood and Glitter gehören zusammen.
Mehr noch:
die Erfahrung von Schmerz und Schönheit
bringt Menschen zusammen.
We are all from the same blood
- wir sind alle vom gleichen Blut.
So singt und musiziert und inszeniert das
Lord oft he Lost.
Und vielleicht gibt es nur wenig Musik
neben Dark Rock, Hard Rock oder Heavy Metal,
die das in dieser Gleichzeitigkeit
und in dieser Intensität zum Ausdruck bringt:
mal schrill, laut und gewaltig
und im nächsten Moment
melodisch, rhythmisch und zum Mitsingen.

Wir sind alle Menschen.
Und alle machen die Erfahrung
dieser Widersprüche,
im Kleinen, wie im Großen.
Auch hier in diesem Land,
ist vieles widersprüchlich:
Es gibt viel Reichtum,
UND viel Armut.
Wir haben ein Schulsystem,
das viel ermöglicht,
UND es gibt Kinder,
die keine Chance auf Bildung haben.
Wir investieren Millionen
in die medizinische Forschung,
UND Menschen sterben an Krebs.
Blut UND Glitzer. Gleichzeitig.
Beides gehört zu unserem Leben, 
zur manchmal harten Realität.

Was aber auch Realität, 
uns aber viel zu selten bewusst ist:
With broken wings, we learn to fly
We are blood and glitter
Mit gebrochenen Flügeln
lernen wir zu fliegen.
Wir sind Blut und Glitzer.
Wir sind zerbrochen
und heil zugleich.
Wir alle.  

 

IX.             Ich bin gewiss

Kein anderer als Jesus selbst
hat das am eigenen Leib durchlebt.  
Bis zum Ende.
Keiner war so zerbrochen wie er,
hat um sein Leben gekämpft
und verloren.
Und keiner ist so vollständig
ins Leben zurückgekehrt, wie er.
Hat geglitzert am Ostermorgen
und an den Tagen danach,
obwohl seine Narben noch sichtbar waren.
Und wer ihm begegnet ist,
hat von ihm gehört:  
Ich bins. Fürchte dich nicht!

Und so leihe ich mir Worte von Paulus,
der Blut und Glitzer kennt -
und den Auferstandenen auch.
Worte, die uns vielleicht sogar bekannt vorkommen:

Denn ich bin gewiss,
dass weder Blut noch Glitzer
weder Tod noch Leben,
weder Engel noch Mächte noch Gewalten,
weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, 
weder Hohes noch Tiefes
noch irgendeine andere Kreatur
mich scheiden kann
von der Liebe Gottes,
die in Christus Jesus ist,
unserm Herrn. (Römer 8, 38f)
Amen.

 

 


Sonntag, 14. Juli 2024

Es reicht!


Es reicht!
2. Mose 16, 2-3 und 11-18   

Gottesdienst
im Johannesforum Wendlingen
und in der Jakobskirche Bodelshofen
am Sonntag, 14. Juli 2024 


I.                   Omas Küchentisch I

Für mich ist es eine der wichtigsten Kindheitserinnerungen:
Omas Küchentisch, um den wir alle saßen.
Immer samstags um halb vier.
Meine Brüder Martin und Simon,
meine Cousine Annette,
meine beiden Vettern Christoph und Thomas
und manchmal auch unsere Eltern
oder Helga
oder jemand anderes aus der Nachbarschaft.
Und natürlich Opa
auf seinem Platz an der Stirnseite.
Und ich auch,
auf der Eckbank zwischen den anderen.
Manchmal wir alle.
Und manchmal nur ein Teil von uns.
Und dann wurde aufgetischt von Oma.
Salzblaaz gabs immer.
Mit Schnittlauch und Kümmel.
Im Sommer Mirabellenkuchen
und im Winter Streuselkuchen.
Dazu Kaffee mit Würfelzucker
aus den weinroten Tassen,
gelben Sprudel
und im Herbst Süßmost
aus dem Senfglas mit Mogli.  
Immer samstags „um Halber“.
Nie war zu wenig auf dem Tisch.
Nie ging jemand hungrig nach Hause.
Es hat immer gereicht.

 

II.                Früher war alles besser!

Früher war alles besser!
Ja, damals, als wir noch
bei Oma am Küchentisch saßen.
Als wir uns die Bäuche vollschlugen
mit Salzblaaz und gelbem Sprudel
und Mirabellenkuchen
und Kaffee mit Würfelzucker.
Niemand von uns dachte damals daran,
dass es irgendwann anders sein würde.
Niemand hatte auf der Pfanne,
dass auch das Leben von Oma einmal
zu Ende sein würde,
und dann niemand mehr Kuchen backt.
Niemand von uns wusste,
wohin uns unser Leben führen würde
wenn wir älter werden –
und weggehen müssten.
Weg von Omas Küchentisch.
Was sich damals niemand vorstellen konnte.  
Verschiedenste Wege wurden daraus
im Lauf der Jahre.
Nicht alle waren einfach.
Aber alle wurden irgendwann gut.
Wenn wir uns sehen,
erinnern wir uns oft an Omas Küchentisch
und die guten, alten Zeiten.
Und manchmal sind wir traurig, dass sie vorbei sind.

 

III.             Volk Israel I

An die guten, alten Zeiten
erinnert sich auch das Volk Israel in der Wüste.
Es rottet sich gegen Mose und Aaron zusammen.
Sie murrten:

»Hätte der HERR uns doch getötet,
als wir noch in Ägypten waren!
Dort saßen wir vor vollen Fleischtöpfen
und konnten uns an Brot satt essen.
Aber ihr habt uns herausgeführt
und in diese Wüste gebracht,
damit die ganze Gemeinde verhungert!«

Es reicht!
Das Volk Israel hat keinen Bock mehr!
Sie fühlen sich von ihrer Regierung, Mose und Aaron,
an der Nase herumgeführt.
Eigentlich sollte doch alles besser werden,
wenn sie dieses fürchterliche Ägypten
erst mal verlassen haben.
Sklaven waren sie dort! Unfreie Menschen.
Und alles hätte besser werden müssen als das.
Aber nein, nun irren sie durch die Wüste
ohne Sinn und Ziel – und haben Hunger.
Man hat ihnen die Freiheit versprochen -
aber nun wartet der sichere Tod auf sie.
Ohne Nahrung kein Leben.
Die Wüste ist gnadenlos.

„Wären wir doch nur in Ägypten geblieben!“
Wer kann den Israeliten diesen Satz verübeln?
Sie hatten dort zu Essen und waren versorgt.
Was sie nicht hatten, war Freiheit.
Aber was ist Freiheit wert,
wenn man alle Sicherheit dafür aufgibt?
Was ist Freiheit wert,
wenn das Risiko zu sterben
höher ist, als die Chance zum Überleben?

Überfordert waren sie
und nörgelig.  
Und mit der Gesamtsituation unzufrieden.  

 

IV.            Es reicht!

Es reicht!
Das schreien die, die davon überzeugt sind:
Wir kommen zu kurz.
Und wenn die Aussage „Es reicht!“
gepaart ist mit Jammern und Murren
und der Überzeugung
„Früher war alles besser“,
dann passieren Dinge, die nicht gut sind.
Ein Blick in die Geschichte:
Das Ende der Weimarer Republik
war geprägt durch solche oder ähnliche Gesinnungen.
Inflation und das Gefühl von sozialer Ungerechtigkeit
führten zu großen Unruhen,
bis hin zu politischen Morden.
Der Aufschwung war vergessen,
der vergleichsweise hohe Lebensstandard bedroht.
Die Schere zwischen arm und reich
klaffte immer weiter auseinander
und die einst so gefeierte Freizügigkeit
wurde zur Bedrohung der nationalen Identität.
Wer bin ich eigentlich,
dass ich etwas von dem hergebe, was mit zusteht?

Es reicht!
So argumentieren auch die,
die neulich bei den Europawahlen
ihr Kreuz so gesetzt haben,
als wären sie in der Wüste.
Als müssten um ihr Überleben bangen.
„Es reicht!“ und
„Früher war alles besser!“
schreien Menschen auch heute und sagen,
dass die Mark mehr wert war als der Euro.
Oder dass die Renten früher sicherer waren,
und die Straßen auch.   
„Es reicht!“ und
„Früher war alles besser!“
schreit, wer ein Europa mit offenen Grenzen
als Bedrohung erlebt und Angst hat vor den vielen,
die zu uns kommen in der Hoffnung,
hier leben zu können.
„Es reicht!“ und
„Früher war alles besser!“
Schreien die, die in Freiheit leben
und doch Angst haben,
zu kurz zu kommen.
Angst davor haben, etwas zu verlieren,
das ihnen Sicherheit gibt.
Wie die Geschichte der Weimarer Republik ausgegangen ist,
wissen wir.
Dass sich Geschichte wiederholt,
wissen wir auch.
OB sich Geschichte wiederholt,
liegt in unserer Hand.
Und in den Händen aller,
die mit Freiheit größere Hoffnungen verbinden,  
als mit den vermeintlich sicheren
Fleischtöpfen Ägyptens.

V.                 Volk Israel II

Der HERR sagte zu Mose:
»Ich habe das Murren der Israeliten gehört und lasse ihnen sagen: ›Gegen Abend werdet ihr Fleisch zu essen bekommen und am Morgen so viel Brot, dass ihr satt werdet. Daran sollt ihr erkennen, dass ich der HERR, euer Gott, bin.‹«

Am Abend kamen Wachteln und ließen sich überall im Lager nieder, und am Morgen lag rings um das Lager Tau. Als der Tau verdunstet war, blieben auf dem Wüstenboden feine Körner zurück, die aussahen wie Reif. Als die Leute von Israel es sahen, sagten sie zueinander: »Was ist denn das?« Denn sie wussten nichts damit anzufangen. Mose aber erklärte ihnen: »Dies ist das Brot, mit dem der HERR euch am Leben erhalten wird.

Und er befiehlt euch: ›Sammelt davon, so viel ihr braucht, pro Person einen Krug voll. Jeder soll so viel sammeln, dass es für seine Familie ausreicht.‹«

Die Leute gingen und sammelten, die einen mehr, die andern weniger. Als sie es aber abmaßen, hatten die, die viel gesammelt hatten, nicht zu viel, und die, die wenig gesammelt hatten, nicht zu wenig. Jeder hatte gerade so viel gesammelt, wie er brauchte. 

 

VI.             Es reicht!

In der Wüste kann man überleben. 
Nicht automatisch.
Man muss dazu die Geheimnisse der Wüste kennen,
die Geheimnisse des Lebens,
und manchmal die des Über-lebens auch.
Dazu gehört auch, dass man sich denen anvertraut,
die in der Wüste zu Hause sind.
Die die Wasserquellen kennen
und auch die unsichtbaren
und vom Sand verwehten Wege.

Davon war das Volk Israel weit entfernt.
Mose und Aaron hatten zwar
eine Idee von Freiheit
und den Auftrag, die Menschen dahin zu führen,
aber aus der Sklaverei in die Wüste:
das sind schwierige Alternativen.  
IHR habt uns hierhergebracht.
IHR seid schuld an unserer Lage.
Die ganze Situation war heikel und drohte zu scheitern.
Das Volk war sauer.
Sauer, am Ende der Kraft,
und durchaus in Lebensgefahr.

Und dann passiert, was nicht vorhersehbar war.
Ein wütender, regierungskritischer Mob
macht eine Erfahrung: 
Aus einem erbosten „Es reicht!“
wurde ein erstauntes „Es reicht!“
Und zwar für alle!
Wachteln und Manna, Himmelsbrot.
Immer genau so viel,
dass an diesem Tag alle satt wurden.
So viel, dass es zum Leben reicht.
Und wer gierig mehr genommen hat,
als an einem Tag essbar ist,
dem verfaulte das Übrige.

 

VII.           Reality-Check

Wir sind nicht das Volk Israel in der Wüste.
Was damals passiert ist, ist längst Geschichte.
Aber wenn ich manche Diskussion
auf mich wirken lasse,
erinnert mich manches an diese Begebenheit.  
Wie schnell habe ich das Gefühl,
zu kurz zu kommen?

Das geht schon los beim Bäcker,
wenn die Wunsch-Brotsorte nicht da ist.
Oder im Café Freiheit,
wenn an manchen Montagen
über die Größe der Kuchenstücke diskutiert wird
und wieviel man dafür jetzt
in die Kasse wirft.

Und es geht hin bis zur Frage der Steuerentlastung.
Die jetzt mal jemand anderes im Geldbeutel spürt –
und ich nicht.

„Es reicht!“
Das ist so schnell gesagt!
Schnell, populistisch und oft ungeachtet
vieler anderer Aspekte, die auch wichtig sind.
So wie das Volk Israel in dieser Situation
vergessen hatte, dass sie jetzt in Freiheit sind.
Aber davor Sklaven waren. Unfreie.

Vielleicht hat es die Wüstenerfahrung
für die Israeliten gebraucht:
In der Wüste wurde aus einem populistischen
„Es reicht!“ ein überraschtes „Es reicht!“:
Eine Feststellung, dass für alles gesorgt ist.
Ein Staunen darüber, dass man
als Volk in der Wüste überleben kann,
wenn man aufeinander achtet.
Und sich jede*r nur das nimmt, was er*sie braucht.

 

VIII.       Omas Küchentisch II

Zurück zu Omas Küchentisch.
Dort wurde nicht nur gegessen,
es wurde auch viel erzählt.
Vor allem von Opa.
Von Wüstenerfahrungen,
die damals „Krieg“ und „Nachkriegszeit“ hießen.   
Zeiten, in denen man heute nicht wusste,
wovon man morgen satt werden sollte,
und ob man überhaupt noch am Leben war.
Geschichten von Flucht und Gefangenschaft,
vom Zu-Kurz-Kommen, von Unfreiheit
und von einem populistischen „Es reicht!“,
das Millionen Menschen das Leben kostete.

Diese Geschichten kamen zusammen
mit Salzblaaz, Mirabellenkuchen und gelbem Sprudel
an Omas Küchentisch.
Jahrelang, Samstag für Samstag.

Nein, es waren nicht nur Opas Geschichten.
Es war auch nicht nur Omas
voll gedeckter Tisch.
Beides zusammen war wichtig -
am Samstagnachmittag um halb vier
und bis heute.

Jetzt, viele Jahre später,
- beide leben beide längst nicht mehr -
meine ich eine Botschaft verstanden zu haben,
die sie uns – bewusst oder unbewusst -
mit auf den Weg gegeben haben:
„Es reicht!“ -  tatsächlich für alle.

Amen.

Samstag, 27. April 2024

Am Meer stehen und singen: Gottes Geheimrezept in apokalyptischen Zeiten

Gottesdienst zum Sonntag Kantate
am 28.04.2024 in der
Jakobskirche Bodelshofen 



Offenbarung 15,2-4

Ich sah, wie sich ein gläsernes Meer mit Feuer vermengte, und die den Sieg behalten hatten über das Tier und sein Bild und über die Zahl seines Namens, die standen an dem gläsernen Meer und hatten Gottes Harfen und sangen das Lied des Mose, des Knechtes Gottes, und das Lied des Lammes: Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, allmächtiger Gott! Gerecht und wahrhaftig sind deine Wege, du König der Völker. Wer sollte dich, Herr, nicht fürchten und deinen Namen nicht preisen? Denn du allein bist heilig! Ja, alle Völker werden kommen und anbeten vor dir, denn deine Urteile sind offenbar geworden.

 

I.                    Am Meer

Am Meer stehen.
Und erst mal schauen.
Schauen auf die Wellen.
Auf die Bewegungen des Wassers.
Die Gischt.
Die Möwe, die eintaucht und das Schiff am Horizont.
Das Bild in sich aufnehmen von Weite und
die Größe der Welt wirken lassen.
Wasser und Himmel voneinander unterscheiden.
Unendlichkeit spüren.
Das Gefühl haben, dass alles gut ist.
              Sie standen an dem gläsernen Meer
              und hatten Gottes Harfen
              und sangen das Lied des Mose,
              des Knechtes Gottes, und das Lied des Lammes:  
              Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr,  
              allmächtiger Gott!

Am Meer stehen
und staunen.
Über diesen Ozean,
der voller Leben ist und voller Geschichten.
Geschichten, die das Leben schrieb.
Die Guten.
Mit dem Sonnenuntergang und
dem Lavendelduft.
Und Wärme in der Seele
beim Gedanken an einen Menschen.

Aber auch andere Geschichten.
Auch Geschichten, die das Leben schrieb.
Die Schmerzvollen.  
Mit Donnergrollen und blutiger Nase.
Menschen, die mir schaden.
Die mich als Verliererin sehen wollen.
Und wenn ich daran denke,
ist es in mir kalt und starr.

Geschichten,
die das Leben schrieb,
tummeln sich in diesem Meer.
Und ich stehe und schaue auf mein Leben.
Und meine Geschichten.
Ich stehe davor und staune.
Und ich spüre:
Wenn ich am Meer stehe, ist alles gut.
              Ich sah, wie sich ein gläsernes Meer
              mit Feuer vermengte,
              und die den Sieg behalten hatten,
              die standen an dem gläsernen Meer
              und hatten Gottes Harfen
              und sangen das Lied des Mose.

 

II.                  Vom Ende her betrachtet

„Du musst es vom Ende her betrachten,
dann ergibt alles einen Sinn.“

Ein gut gemeinter Rat in schwierigen Zeiten.
„Du musst alles vom Ende her betrachten –
wie bei einem Drehbuch, das du schreiben willst.“

Man könnte meinen:
Hauptsache das Ende steht fest – der Rest ergibt sich.
Und es muss ein gutes Ende sein.

Auch wenn der Rest der Geschichte erst entsteht:
wie es ausgeht, ist gewiss.
Bis dahin: Drama, Babe.
Etwas von allem ist drin in diesem Leben.
Liebe, die ganz Große. Und der erste Kuss.
Scheitern, Versagen.
Die Lüge, die alles kaputt macht.
Und der unendliche Schmerz auch.
Und dann fügt sich alles auf wundersame Weise
doch wieder zusammen zu einem Leben.
Zu DEINEM Leben.
Und das alles erlebst du,
während du weißt, wie das Ende ausgeht.
Dieses letzte rauschende Finale,
nach dem im Kino alle sagen:
„Boah, war das schön!“
Das Finale, in dem am Ende alle glücklich sind.
In dem es kein Leid mehr gibt,
keine Tränen und keinen Schmerz.
Das Finale, in dem alles ist, wie es sein soll.
Und Gott in der Hauptrolle.
Und du auch.

 

III.                Da ist Musik drin

Vom Ende her betrachtet
ist Musik drin
im Meer des Lebens.
Immer wieder sind da die alten Lieder,
die schon die Vorfahren sangen.
Und wir bis heute singen.
Lieder, die vertraut sind aus Kindertagen
und aus den Erzählungen der Alten.

              Das Lied des Mose
und das meines Großvaters.
Und das von Claudia,
aus meinem Kindergottesdienst vor 40 Jahren.
Du meine Seele singe,
Wohlauf und singe schön!
              Groß und wunderbar sind deine Werke,
              Herr, allmächtiger Gott!
Meine Hoffnung und meine Freude,
meine Stärke, mein Licht,
              gerecht und wahrhaftig sind deine Wege,
              du König der Völker.

Auf Seele, Gott zu loben,
there is none like you!
Ich sing dir mein Lied,
in dir klingt mein Leben,
              denn du allein bist heilig!
Weil er die kleinen Dinge liebt,
weiß ich er liebt auch mich.
              Wer sollte dich, Herr, nicht fürchten
              und deinen Namen nicht preisen?
              Ja, alle Völker werden kommen und anbeten vor    
              dir, denn deine Urteile sind offenbar geworden.

Musik im Meer des Lebens.
Jahrtausendealt und gleichzeitig jünger als ich.
Worte und Melodien zum Leben und zum Sterben. 
Worte der Gewissheit,
dass am Ende alles gut wird.
Und dass vom Ende her betrachtet,
doch alles einen Sinn ergibt.
Eingesungen in mein Herz,
in unsere Herzen
und ins Meer des Lebens.

 

IV.               Apocalypse now

Aber noch ist nicht das Ende.
Noch stehe ich nicht am Meer
und kann alles mit Abstand und
vom Ende her betrachten.
Noch lebe ich
im stürmischen Meer des Lebens.
Bin mal Welle und mal Wind.
Mal ertrinkend im Meer und
mal an den Strand gespült.  

Noch ist alles da,
was mich zweifeln lässt an der Idee,
dass die Sache mit dem großen Finale
und dem guten Ende funktioniert.

Noch sehe ich das Elend der Vielen,
die ertrinken im Meer
auf ihrer Reise in ein vermeintlich sicheres Europa.
Und höre das Schluchzen der Mutter,
die am Leben ist
und im Lager um ihr totes Kind weint,
das nie wieder bei ihr sein wird.
Ich erschrecke über die Berichterstattung
zur Asylpolitik in unserem Land
und ich lese die zynischen Urteile
in den Kommentarspalten der sozialen Medien.

Noch spüre ich die Wut und den Schmerz derer,
die durch ihr Anderssein
ausgegrenzt und in der Öffentlichkeit
entwürdigt werden.
Tabitha, die früher mal Tobias hieß.
Und deren Nachbar sie immer noch „aus Prinzip“
mit ihrem alten Namen anredet.  
Serdar und Marek, die sich erst jetzt trauen,
ihre Freunde zu einem Fest einzuladen
- anlässlich ihrer Hochzeit vor 5 Jahren.
Svenja, die im Rollstuhl sitzt und eine Arbeit sucht.
Dutzende Bewerbungen hat sie geschrieben.
Offenbar kann sich niemand vorstellen,
dass eine Frau mit Behinderung
einen normalen Arbeitsalltag im Büro
bewältigen kann.

Noch spüre ich meine eigenen Grenzen.
Meine Ungeduld, weil mir vieles zu langsam geht.
Den Ärger über meine Kirche,
die sich viel zu zaghaft verändert -
dort, wo Veränderung gut wäre.
Und alles übers Knie bricht -
dort, wo Besonnenheit nötig wäre.
Ich höre mein eigenes, inneres Grummeln
und die Stimme, die mir sagt:
„Du schaffst das nicht.“
„Es interessiert eh keinen, was du denkst.“
„Allein kannst du sowieso nichts ändern.“

Noch schwimme ich in diesem Meer,
bin den Wellen ausgeliefert und frage mich:
Wann kommt dieses feudale Ende,
von dem alle sagen:
„Am Ende wird alles gut –
und wenn es noch nicht gut ist,
dann ist es noch nicht das Ende?“

V.                 Hoffnungszeichen

Bis es soweit ist,
lebe ich von Hoffnungsbildern.
Von einem möchte ich erzählen,
das wir als Gemeinde selbst mit erschaffen haben.
Letzte Woche schrieb Katja Buck,
Journalistin und Religionswissenschaftlerin
aus Tübingen, in ihrer Facebook-Timeline:
       „Das verrückteste Projekt der letzten Jahre hat     
       gestern einen wunderbaren Abschluss gefunden.
       Die 17-Register-Orgel aus Wendlingen am Neckar
       ist nach einem spektakulären Umzug und
       Wiederaufbau in der Christuskirche der Theodor-
       Schneller-Schule in Amman mit einem geistlichen
       Konzert eingeweiht worden. Klaus Schulten an der
       Orgel hatte mit den Geistlichen vor Ort ein
       Programm zum Thema Friedenssehnsucht
       zusammengestellt. Und wer sich jetzt fragt, ob es
       eine Orgel in Jordanien denn überhaupt baucht
       und ob das Geld für den Orgelumzug denn nicht
       auch anders hätte angelegt werden können, dem
       sei gesagt: die Orgel ist Ausdruck der Sehnsucht
       nach dem Erhabenen. Und gerade deswegen ist die
       Orgel hier so wichtig.“

Dort in Jordanien,
wo sich Menschen bekriegen,
wo Frieden ein Fremdwort ist
und Versöhnung unmöglich scheint,
werden Hoffnungslieder gesungen.
Begleitet von „unserer“ Orgel.
Totgesagt war sie.
Niemand wollte sie haben.
Dem Zerfall, dem Holzwurm
und den Mäusen ausgeliefert
lag sie in der TVU-Halle.
Und als sich Menschen trafen,
die einen, die um die Orgel wussten
und die anderen,
die eine Orgel suchten,
da war alles klar.
Vom Ende her gesehen,
hat alles so kommen müssen.
Aber bis dahin wusste niemand,
wie es mit dieser, unserer, Orgel
zu einem guten Ende kommen sollte.
Nun ist sie in Amman in der Christuskirche,
und so trägt dort dazu bei,
dass Friedenslieder gesungen werden:         
              Die den Sieg behalten hatten, die standen an dem  
              gläsernen Meer und hatten Gottes Orgel und  
              sangen Friedenslieder im nahen Osten:
              Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr,   
              allmächtiger Gott!


VI.               Das Ende

Am Ende werden wir am Meer stehen.
Alle, die wir das Vertrauen nicht verloren
und die Hoffnung nicht aufgegeben haben.
Und mit uns werden die da sein,
die alles verloren glaubten
und von uns aufgegeben wurden -
aber nie von Gott.
Gemeinsam werden wir singen
              das Lied des Mose, des Knechtes Gottes, und das  
              Lied des Lammes:
              Groß und wunderbar sind deine Werke,
              Herr, allmächtiger Gott!

Bis es soweit ist,  
will ich sie weiter am Meer stehen und singen:
die Lieder, die von dem Ende erzählen,
an dem alles gut sein wird.
Die Lieder, die zum Leben helfen –
und zum Sterben auch.
Ich will diese Lieder jetzt schon singen
trotz allem, was ist.
Trotz meinem Schmerz
und meiner Wut,
meiner Hilflosigkeit und
meinen Selbstzweifeln.
Und ich bin gewiss:
Gott wird sie hören,
meine Lieder.
Jetzt
und am Ende
auch.
Amen





Mittwoch, 27. März 2024

überMUT


überMUT
"Und wenn ich mit dir sterben würde..."
Passionsandacht 
in der Eusebiuskirche 
am 27. März 2024



Petrus, alter Freund,
heute stehe ich beim Feuer,
wie Du damals in jener Nacht,
als der Hahn krähte. 

Und ich bin in Gedanken bei dir.
Bei dir - damals in diesen seltsamen Tagen,
als es eng wurde für Jesus.
Und um Jesus herum.
Und du hautnah dabei.

Petrus, heute stehe ich beim Feuer,
bin in Gedanken bei dir und wünschte mir,
es würden Raum und Zeit verschwimmen.
Du und ich könnten dann zusammen am Feuer sein.
Sehen, hören, riechen, was um uns ist
und uns gemeinsam erinnern,
was geschehen war.
Du würdest mir die alte Geschichte erzählen.  
Die Geschichte von der Nacht, in der du gebangt
und gehofft hattest
auf den nächsten Morgen.
Gehofft, dass es gut ausgeht.
Mit Jesus und mit dir.
Mit euren Freunden.
Und mit euch allen gemeinsam.
 
Ach Petrus,
könnten wir doch gemeinsam beim Feuer stehen
und uns wärmen.
Und ich ein bisschen mehr sein, wie du.
Ein bisschen entschlossener und ein bisschen tatkräftiger.
Ein bisschen begeisterter, körperlich fitter, motivierter und
insgesamt mutiger.

Ach Petrus,
könnten wir doch gemeinsam beim Feuer stehen,
uns wärmen
und ich ein bisschen von dir lernen.
Auch, wie man Netze flickt und
den einen Fisch
vom anderen unterscheidet
Aber vor allem, wie man Entscheidungen trifft.
Einfach mal kurz entschlossen
sein altes Leben aufgibt.
Alles stehen und liegen lässt 
und mit Jesus mitgeht.

Ob ich es getan hätte?
Ich weiß es nicht.

Aber sag mal, Petrus,
würdest du das eigentlich wieder so machen?
Dein Schiff. Deine Netze. Deine Kundschaft.
Deine Familie.
Würdest du das alles noch einmal verlassen?
Manchmal fällt es mir tatsächlich schwer,
das nachzuvollziehen.

War das Mut?
Oder war es Über-Mut?
Also: über-menschlich viel Mut?
Oder auch: Mut, über ein normales Maß hinaus?
Und hat es sich gelohnt?

Ich bin mir nicht sicher, Petrus,
was deine Bilanz aus heutiger Sicht wäre.
Ich kann nur versuchen, das irgendwie,
anhand alter Geschichten, nachzuvollziehen.
Und ich spüre:
für dich war dieser Weg richtig.
Du hast Jesus persönlich und leibhaftig erlebt.
Als Freund. Als Lehrer. Als Mensch.
Du hast ihn reden gehört.
„Sorgt euch nicht um den nächsten Tag!“
Warst dabei, als er einen Gelähmten geheilt hat.
„Steh auf, nimm dein Bett und geh!“
Und hast geholfen, die Reste einzusammeln,
als Tausende satt wurden von 5 Broten und 2 Fischen.
Bist Augenzeuge für all das,
was wir heute Wunder nennen.
Für dich waren das keine Fragen, sondern Tatsachen.
Und heute stehe ich am Feuer um mich zu wärmen,
denke laut über all das nach
und würde dich gerne fragen:
Petrus, meinst du, es gibt sie noch, diese Wunder?
Heute?
 

Wenn ich mir das recht überlege, Petrus,
würde mir und vielen anderen
das eine oder andere Wunder guttun.
Und deshalb vielleicht auch
der eine oder andere „Mutanfall“.

Noch nie war die Kinderarmut so dramatisch wie heute.
Jetzt hoffen auf 5 Brote und 2 Fische:
ist das Mut – oder Über-Mut?

Krebs mit Anfang 20.
Jetzt hoffen auf Heilung:
ist das Mut – oder Über-Mut?

Krieg überall auf der Welt, auch in Europa.
Jetzt mit Frieden rechnen:
ist das Mut – oder Über-Mut?

Petrus, ich wünschte, es wäre alles so klar.
Für mich, für uns alle.
So klar, wie für dich damals.
Ich wünschte, ich hätte deinen Mut.
Und manchmal auch deinen Über-Mut.
Einen Mut, der über das hinausdenkt,
was gerade Fakt ist.
Der Grenzen sprengt und Großes erwartet.
Von Gott. Von Menschen.
Und manchmal auch von mir selbst.

Ja, ich beneide dich um deinen Über-Mut.
Über-Mut im besten Sinne.
Du konntest ihn deshalb haben,
weil du Zeuge warst von all dem –
und deshalb über-zeugt warst
bis in die letzte Faser deines Herzens.
 

Petrus, du hast dich von nichts und niemanden
aus dem Konzept bringen lassen.
Nicht mal von Jesus,
der wusste, wie alles kommen wird.
Der auch um die Grenze deines Muts wusste,
die du nicht wahrhaben wolltest.

Vielleicht war es deshalb so schwer zu ertragen für dich,
was Jesus dann gesagt hat.
Dass auch du dich ärgern wirst. Und scheitern.
Ihn, Jesus, verleugnen,
für den du alles geben wolltest.
Scheitern war wohl keine Option in deinem Konzept.
„Und wenn ich mit dir sterben müsste,
werde ich dich nicht verleugnen.“ 

Petrus, mal ehrlich:
aus heutiger Sicht klingt das,
wie grenzenloser Über-Mut.
Deshalb war auch die Fallhöhe beachtlich
und dein Weinen am Ende bitter.
Natürlich konntest du nicht ahnen,
was in den Tagen darauf passieren wird.

Natürlich sind wir heute um viele Erfahrungen reicher.
Natürlich würdest du jetzt
deine Grenzen besser kennen,
deine Worte anders wählen und
vielleicht manches anders einschätzen als damals.
Aber würden wir heute dann von all dem wissen?
Wäre uns diese Geschichte
auch ohne deinen Über-Mut und
ohne dein Scheitern 
erzählt worden?

Vermutlich nicht.
Und wahrscheinlich hast du - trotz allem -  
sehr viel richtig gemacht.

Du hast dich nicht anstecken lassen
von denen, die gezweifelt haben,
ob das mit Jesus richtig ist oder nicht.

Für dich war es richtig.
Und wichtig.
Und einzigartig.
Für dich war nichts infrage gestellt.
Der Abschied von Jesus keine Option.
Und das Mit-ihm-Sterben
eine Selbstverständlichkeit.

Nun ja, Petrus…
damals am Feuer,
als dann der Hahn krähte,
war es zu spät.
Du warst in deine eigene Falle getappt.
Hast schmerzlich bemerkt,
dass dich zwischenzeitlich
der Mut verlassen hatte.
Dass der Über-Mut die eigenen Grenzen
knallhart ignoriert.
Wo du eigentlich ein Vorbild warst,
hast du gnadenlos versagt.
Dein anfänglicher Mut wurde zu dem Über-Mut,
der selten gut tut. 

Ich wüsste nicht, Petrus,
wie es mir gegangen wäre.
Ob ich es geschafft hätte,
den Mut aufzubringen und die Wahrheit zu sagen.
Ich wüsste nicht,
ob ich hätte mein Leben riskieren wollen
für diesen Jesus, an dem sich alle abarbeiten.
Ehrlicherweise müsste ich sagen:
Wenn du es nicht geschafft hast,
der du mit Jesus alles Mögliche durchgestanden hast,
schaffe ich es erst recht nicht.  
 

Und so wärme ich mich hier am Feuer
und wünschte mir,
wieder und wieder,
dass wir gemeinsam hier sein könnten.

Dass wir gemeinsam weinen könnten.
Dass wir zusammen mein Unvermögen aushalten
und dein „ich kenne ihn nicht“.
Ich wünschte mir, dass wir gemeinsam warten,
bis die Nacht vorüber ist und  
es wieder hell wird.
Am Himmel und in der Seele.
Und wenn dann der Hahn kräht, würden wir beide gewiss sein,
dass nur Über-Mut uns dazu bringen kann,
alles von Jesu zu erwarten,
aber nicht das Ende.

Heute würden wir gewiss sein,
du und ich,
dass es weitergeht.
Und dass der Auferstandene uns voraus gehen wird.
In Galiläa. Und in Wendlingen. Und überall.
Amen.