Wenn du jetzt auf Weihnachten zugehst, dann sei aufmerksam. Vielleicht begegnet dir jemand und ist Engel für dich. Ein Engel der hilft, tröstet, liebt, zuhört, erinnert, Suppe kocht, vorliest, anruft, einen Brief schreibt und nicht nur eine Mail. Sekt vorbei bringt und Vanillekipferl. Die Kinder hütet oder deine Seele.
Wenn du jetzt auf Weihnachten zugehst, dann sieh dich um. Vielleicht begegnet dir jemand und braucht dich als Engel. Als Engel der hilft, tröstet, liebt, zuhört, erinnert, Suppe kocht, vorliest, anruft, einen Brief schreibt und nicht nur eine Mail. Sekt vorbei bringt und Vanillekipferl. Die Kinder hütet oder die Seele.
Wenn du jetzt auf Weihnachten zugehst, dann lass dich beflügeln und sei gesegnet und ein Segen.
(In Anlehnung an „An diesem Dienstag“ von Wolfgang
Borchert; Fotos: Unsplash)
An diesem Dienstag
sitzt Nele am Küchentisch.
Der Kaffee dampft aus der Tasse.
Draußen hüllt der Herbstnebel
alles in dunkles Grauweiß.
Die Kirchturmuhr schlägt vier Mal
und dann sieben Mal.
Ein Blick aufs Handy –
Leo hat sich heute noch nicht gemeldet.
Sie scrollt einmal durch.
Instagram.
Viele Fotos.
Von Vielen.
An einem bleibt sie hängen.
Ein Foto unter vielen.
Ein christliches – so mit Bibelvers.
Eine Friedenstaube, gemalt auf eine Mauer.
Ein Schwert.
Und ein: „Jesus sagt“.
Nele schaut irritiert aus dem Fenster.
Sie muss nachlesen.
Wenn sie heute Mittag wieder zu Hause ist.
Vor dem Fenster frisst eine Taube
ein Stück weggeworfenes Brot.
Die Woche hat einen Dienstag. Das Jahr ein halbes Hundert. Das Leben hat viele Dienstage.
An diesem Dienstag steht im Matthäusevangelium wie an allen Dienstagen seit unserer Zeitrechnung:
Denkt ja nicht, dass ich gekommen bin, um Frieden auf die Erde zu
bringen!
Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert.
Ich bringe Streit zwischen einem Sohn und seinem Vater,
einer Tochter und ihrer Mutter,
einer Schwiegertochter und ihrer Schwiegermutter.
Die engsten Verwandten eines Menschen werden dann zu seinen Feinden.
Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich,
ist es nicht wert, zu mir zu gehören.
Und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich,
ist es nicht wert, zu mir zu gehören.
Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir folgt,
ist es nicht wert, zu mir zu gehören.
Wer sein Leben erhalten will, wird es verlieren.
Aber wer sein Leben verliert, weil er es für mich einsetzt, wird es erhalten«
Jede Woche hat einen Dienstag. Das Jahr ein halbes Hundert. Das Leben hat viele Dienstage, an denen man sein Leben verlieren und erhalten kann.
An diesem Dienstag
sitzt Leo im Zelt auf einem Hocker.
Vor ihm sitzt Aleschi auf einem anderen Hocker.
Und hält ihm seinen Fuß entgegen.
Leo versorgt die eiternde Wunde
und versucht, sich mit dem Jungen zu unterhalten.
Ihn abzulenken von den Schmerzen,
während er das Pflaster abreißt.
8 Jahre alt ist er vielleicht.
Und so viel hat er schon gesehen
auf seiner Flucht:
Wunden an Beinen und Köpfen.
Gliedmaßen ohne den dazugehörigen Menschen.
Vertrocknetes Leben.
Zerstörte Träume.
Den Tod hat er gesehen, gehört und gerochen.
Und an manchen Tagen auch geschmeckt
an seinen eigenen trockenen Lippen.
Aber jetzt ist er bei Leo.
Und Leo macht mit ihm Faxen,
verbindet seine Wunde,
füllt die Wasserflasche auf.
Und gibt ihm eine Packung
portioniertes Knäckebrot.
Aleschi lacht, als Leo Grimassen schneidet.
Leo lacht mit.
Wenn er sich umsieht,
hier im Lager auf Moria,
vergeht ihm das Lachen.
Wunden an Beinen und Köpfen.
Menschen ohne Beine oder Arme.
Ausgemergelt und mit stumpfen Augen
und vertrockneten Seelen.
Leo kann helfen.
Ein bisschen Frieden auf Erden machen.
Ein bisschen nur.
Wasser und Brot teilen.
Und lachen.
Immer wieder schickt er WhatsApps nach Hause.
Heute ein Foto von sich – zusammen mit Aleschi,
der stolz seinen weißen Verband zeigt.
„Cool, dass du ein bisschen Frieden für den Jungen machst!“
schreibt Nele zurück.
Und: „Du siehst ein bisschen aus wie Jesus“
Die Woche hat einen Dienstag. Das Jahr ein halbes Hundert. Das Leben hat viele Dienstage um andere zum Lachen zu bringen. Um Wunden zu verbinden und Brot zu teilen.
An diesem Dienstag
kam die Nachricht aus dem Krankenhaus.
„Sie wird nicht mehr lange leben,
und sie will Sie unbedingt sehen.“
Der Kontakt war noch nie besonders gut
zwischen Inge und Gudrun.
Vieles wurde nie ausgesprochen.
Oder es lag ein scharfer Ton in der Luft.
„Niemals werden die klarkommen,
wenn du nicht konsequenter bist!“
Gudrun hatte die Worte ihrer Mutter noch im Ohr.
Wie ein Schwert trafen sie damals.
Wahrscheinlich auch heute,
wenn sie so drüber nachdenkt.
Obwohl aus beiden Kindern was geworden ist.
Sie ist stolz auf Nele und Leo,
die wissen, was sie können
und was ihnen wichtig ist.
Wahrscheinlich hat auch sie ihre Mutter
vor den Kopf gestoßen
mit Schwert-Worten.
Mit ihrer liberalen Vorstellung davon,
wie man Kinder erzieht.
Und mit ihrem Hang zu Freiheit und Demokratie.
Ihre Kinder kommen ganz nach ihr.
Leo kümmert sich um geflüchtete Kinder.
Nele will nach dem Abi Politik studieren.
„Damit die Welt ein bisschen besser wird“,
wie sie so schön sagt.
Inge findet nach wie vor, Jungs sollen Geld verdienen und Mädels heiraten und
Kinder kriegen.
Gudrun seuzt.
Sie wird ihre Mutter nicht mehr davon überzeugen, dass diese Einstellung keine
Hilfe ist.
Nicht für sie – und auch nicht für Nele und Leo.
„Ob es wohl die letzte Begegnung ist?“
Gudrun weiß nicht was sie hoffen soll
oder erwarten kann.
Und fährt ins Krankenhaus.
Die Woche hat einen Dienstag. Das Jahr ein halbes Hundert. Das Leben hat viele Dienstage. Aber nicht mehr, wenn der Abschiedsschmerz schon zu spüren ist.
An diesem Dienstag
sitzt Bernd auf dem Sofa.
Das Handy liegt neben ihm.
Eingeschaltet.
Es zeigt ein Foto von Leo
und einem Jungen,
mit weißem Verband am Bein
und Knäckebrot in der Hand.
Seit 7 Monaten ist sein Sohn dort.
In einem Lager.
Bei den Menschen, denen sowieso
nicht zu helfen ist.
Was ändert sich denn in der Welt,
wenn die jetzt alle zu uns kommen?
Es sind arme Menschen. Keine Frage.
Aber das sein Leo freiwillig dorthin geht,
erträgt er nicht.
Längst könnte er nach seinem Studium
gutes Geld verdienen.
Ein Häusle bauen.
Eine Familie gründen.
Aber für Leo ist es wichtiger, die Welt zu retten.
Bernd kann das nicht nachvollziehen.
Heute ist Dienstag
und sie werden bei der Musikverein-Probe
nach Leo fragen.
Ob er immer noch keinen Job hätte.
Und dann muss Bernd wieder
die Geschichte von der Weltreise erzählen.
„Was musst ausgerechnet du einen auf Jesus
und Frieden auf Erden machen?“
ist die erste Chatnachricht, die Leo nach Monaten von seinem Vater bekommt.
Die Woche hat einen Dienstag. Das Jahr ein halbes Hundert. Das Leben hat viele Dienstage. Dienstags ist Probe im Musikerheim. Und Kinder wie Leo sind manchen Eltern unangenehm.
An diesem Dienstag
geht Nele joggen.
Nein. Nele rennt.
Das hilft ihr, den Kopf frei zu bekommen.
„Was musst ausgerechnet du einen auf Jesus
und Frieden auf Erden machen?“
Auf dem Weg zurück liest sie Bernds Nachricht
im Familienchat.
„Mensch Papa! Wenn schon nicht Frieden in der Familie, dann wenigstens Frieden
auf Erden!“
antwortet Nele.
Mit einem Wut-Smiley dahinter.
Leo antwortet mit „Daumen hoch“
und einem Heul-Smiley.
Zu Hause angelt Nele ihre Konfi-Bibel vom Regal
und schlägt sie auf.
Sie liest vom Frieden. Vom Schwert. Von Familie.
Von Vater, Mutter, Sohn und Tochter.
Und davon,
dass der Familienfrieden
gewaltig schief hängen kann.
„Ein bisschen ist das wie bei uns“, denkt sie laut.
„Eigentlich ist es kein Wunder, dass alles ist, wie es ist."
Die Woche hat einen Dienstag. Das Jahr ein halbes Hundert. Das Leben hat viele Dienstage. Und Familie ist auch am Dienstag schwierig.
An diesem Dienstag
sitzt Gudrun am Bett.
Ihre Mutter atmet schwer.
Das rote Seidentuch liegt neben ihrer Wange.
Die Lippen sind trocken und
Gudrun befeuchtet sie mit einem nassen Waschlappen.
Leise klopft es an der Tür.
Frau Kolb bringt Brot und Wein in einem Korb.
So wie Inge sich das am Morgen
mit wenigen Worten gewünscht hat.
Gudrun räumt ihren Platz an der Bettkannte
und will sich auf den Stuhl in der Ecke setzen.
„Nicht doch! Brot und Wein ist für uns alle.“
Mit einladender Geste
holt Frau Kolb Gudrun zurück.
An ihren Platz an der Bettkante.
Weiches Brot findet sie in ihrer Hand wieder
und in der Hand ihrer Mutter.
Ein paar Krümel fallen auf das rote Seidentuch.
Schweigend essen sie Brot,
als Gudrun leise, aber deutlich, hört:
„Friede mit dir.“
Aus dem Mund ihrer Mutter
klingen diese Worte fremd.
„Friede mit dir“
Und ein Seufzer.
Für Wein ist keine Zeit mehr.
Das Gesicht fällt zur Seite ins rote Seidentuch.
Und zu den Brotkrümeln.
Gudruns Welt steht für einen Moment still.
Die Woche hat einen Dienstag. Das Jahr ein halbes Hundert. Das Leben hat viele Dienstage. Und der Tod auch.
An diesem Dienstag
ist Bernd im Vereinsheim.
„Hast du was von Leo gehört?“
„Ja!“, murmelt Bernd.
„Er bleibt wohl länger dort.“
„Wo?“
„Da, wo er gebraucht wird.“ Nele traut ihren Augen nicht, als sie spät am Abend im Chat liest: „Leo, ich bin stolz auf dich! Gruß, Papa“ „Wir sehen uns bald“ schreibt Leo zurück, und: „Zu Omas Beerdigung bin ich da.“ Gudrun liest auch mit. Ein paar Tränen rollen über ihr Gesicht. Sie denkt an Inge. Und daran, wie schwierig manches war. Für alle. Dass auch sie manchmal nur Schwert-Worte übrig hatte. Die Kirchturmuhr schlägt vier Mal und dann elf Mal. Nebel zieht auf. Der Mond scheint durchs Fenster und draußen ruft ein Kauz in die Nacht.
Die Woche hat einen Dienstag. Das Jahr ein halbes Hundert. Das Leben hat viele Dienstage. Aber an diesem Dienstag ist Frieden geworden.
Amen.
Lied: Wo Menschen sich
vergessen, die Wege verlassen (NL+ 93,1-3)
Erntedank-Gottesdienst im Seniorenzentrum Taläcker
am 28. September 2021
Ein großer Schrank, am Straßenrand.
Er ist etwa so hoch wie ich.
Und er hat weit geöffnete Türen nach beiden Seiten.
In seinem Inneren sind zwei Regalbretter.
Auf diesen Brettern liegt, was im Garten wächst:
Kartoffeln, Mini-Äpfel und Karotten in Tüten.
Kohlrabi, so groß wie Fußbälle
und Zucchini in allen Größen.
Erbsen und Bohnen, abgefüllt in Pappschalen.
In Einmachgläsern stehen riesige Petersilienbündel -
ich nenne sie immer „Küchensträuße“.
Und ein paar handgezogene Grünlilienstecklinge in Joghurtbechern stehen da
auch.
Unten im Regal liegt Brennholz für den Kaminofen.
Vor den geöffneten Türen
liegen Kürbisse in gelb und grün.
Da steht ein Eimer mit Grünkohl.
Und weil da ein Korb mit
roten und gelben Zwiebeln steht,
bleibt die Tür auch bei Wind offenstehen.
Zwischen all dem Gemüse
steht ein leeres Marmeladenglas
mit rostigem Schraubdeckel.
Da hinein legt man das Geld.
So viel, wie in krakeliger Schrift
auf den kleinen Klebeetiketten steht.
Oder auf den vergilbten Preislisten,
die mit rostigen Reißnägeln an die Tür gepinnt sind.
10 Kronen für eine Tüte Karotten.
und 25 Kronen für eine Tüte Kartoffeln.
Wieviel in den Tüten drin ist, weiß man nicht so genau. Das ist auch
unterschiedlich und nicht so wichtig.
Der Kilopreis variiert,
der Tütenpreis steht fest.
Manchmal verirrt sich auch ein Stein in den Kartoffeln. Das ist in dieser
Gegend nicht weiter schlimm.
Dort weiß man:
Kartoffeln und Steine
sehen sich manchmal zum Verwechseln ähnlich.
Seither nennen wir die Kartoffeln „Steingemüse“.
Ich sage immer: Das ist mein Lieblings-Supermarkt.
Dort am Straßenrand,
in einem kleinen Dorf in Dänemark.
Jeder Besuch ist eine Überraschung.
Denn ich weiß nie, was es gibt.
Wieviel in den Tüten ist.
Ob ein Stein drin ist oder nicht.
Sicher ist nur: Es gibt immer Kartoffeln.
Die Box mit frischen Eiern ist immer leer.
Und es gibt immer irgendein Gemüse.
Gewachsen im Garte,
der zu diesem Schrank gehört.
Und zu diesem Haus.
In dem Menschen leben,
die Gemüse anbauen.
Überraschungsgemüse.
Täglich neu und frisch geerntet.
Jahr um Jahr
und Tag um Tag
steht dieser Schrank am Straßenrand.
Ehrlich gesagt kann ich mich nicht daran erinnern,
wann er mir zum ersten Mal auffiel.
Wann ich zum ersten Mal
dort angehalten und gestaunt habe
über diese Mengen an Petersilie und Kartoffeln.
Und Rote Rüben in Herzform.
Nie habe ich diesen Schrank leer angetroffen.
Oder gar verschlossen.
Dort am Straßenrand.
In meiner kleinen Welt gibt es ihn
schon immer.
Jahr um Jahr.
Die Welt dreht sich weiter,
aber dieser Schrank steht da
mit seiner ganzen Fülle.
Ganz am Anfang der Welt gab Gott ein Versprechen.
Erntedank erinnert mich daran.
Und dieser Schrank in Henneby erinnert mich daran.
Er erinnert mich an das Versprechen Gottes.
Solange die Erde sich dreht, wird Leben sein:
Immer wieder wird kommen
Saat und Ernte,
Frost und Hitze,
Sommer und Winter,
Tag und Nacht.
(1. Mose 8,22)
Der Schrank ist gefüllt.
Und mein Leben auch.
Das Leben geht weiter.
Wir Menschen gehen weiter.
Gott geht weiter.
Deshalb heißt Erntedank auch:
Für mich geht es weiter.
Für mich ist gesorgt.
Gott sagt:
ich geb dir die Welt.
Einfach so.
Sie dreht sich.
Für dich und mich.
Und für uns alle.
Dafür muss ich auch nichts
in ein Marmeladenglas legen
mit rostigem Schraubdeckel.
Die dänische Westküste ist ein Sammelsurium deutscher
Kriegsgeschichte.
Wer sich daran stört, sollte hier nicht Urlaub machen.
Ich mache hier Urlaub seit ich 7 Jahre alt bin.
Dieser Ort ist mir zur Heimat geworden.
Auch wenn es manchmal ist wie Geschichtsunterricht.
Zu Worten wie
„Atlantikwall“
„Minenräumung in Skallingen“
„Tirpitz“
„Büffelstellung“
„Vogelnest“
„Bunkerpferde, die keine Pferde sondern Maultiere sind“ und
„Dicke Berta“
können sogar kleine Kinder etwas sagen.
Nicht nur die dänischen – auch die Touristenkinder,
sofern der elterliche Horizont nicht
am Indoorspielplatz des Hvidbjergstrand-Campingplatzes endet.
(Kommt allerdings auch vor.)
Spätestens wenn man sich diesem Flecken Erde geocachend nähert,
wird man an diese Orte geführt,
an die man eigentlich nicht will, wenn die Seele Urlaub hat.
Aber in Bunkern lässt sich schön viel verstecken.
Und an irgendwelchen Mahn- und Denkmalen auch.
Teilweise unterlegt das dänische Militär dieseArt Bildungsurlaub
mit täuschend echtem Originalsound.
Nebenan ist nämlich der Truppenübungsplatz.
Bombenabwurf- Übungen aus tieffliegenden Militärfliegern
und artellerieschießende Panzer im Vorgarten
gehören hier quasi zum Alltag.
Nur Blåvand- Ersttäter*innen reiben sich verwundert die Augen – und kommen nie wieder –
oder zucken gelassen mit den Schultern und gehen zur Tagesordnung über,
auch wenn das Geschirr im Schrank klirrt.
Wer hier sesshaft wird,
ist eher irritiert, wenn es nicht ständig rummst (wie zur Zeit),
freut sich aber, wenn die Panzerpiste offen ist und
von normalen Menschen in normalen Autos befahren werden darf (Ich. Heute.)
Soweit das Vorwort.
Nun also zu dem, was ich heute erlebt habt.
Auch nach achtunddrölfzig Urlauben hier in diesem Revier
gibt es Ecken, die man noch nicht gefunden hat.
Oder solche, die mich noch nicht gefunden haben.
Man hat schonmal davon gehört. Und weiß, dass es da ist.
Aber man war noch nie dort.
So der Soldaten- und Flüchtlingsfriedhof in Oksbøl .
Er liegt nicht an der Rennstrecke, sondern etwas abseits.
Man muss dahin wollen.
Und einmal abgesehen davon, dass dort ein Geocache lag,
der gehoben werden wollte,
war heute ein Tag,
an dem genau dieser Ort auf meinen inneren Plan gerufen wurde.
Es mag Zufall sein oder nicht,
dass der ZDF-Fernsehgottesdienst aus Palermo heute früh stattfand. (Klick)
Und die Sea-Eye 4 heute 29 Menschen,
davon 4 Babies und 2 hochschwangere Frauen,
an Land bringen konnte.
Es mag Zufall sein oder nicht,
dass ich ausgerechnet heute auf die Idee kam,
alleine loszuziehen
ohne quengelnde oder bellende Begleitung,
(was beides auf Friedhöfen grundsätzlich irgendwie lästig und unerwünscht ist).
Jedenfalls war ich in Oksbøl.
Und nach dem Kauf von SexintheBottle- Bier, Dild- Chips und Bio-Zucchini.
Und nach dem Palermo-Gottesdienst.
Und nach den guten Nachrichten von gestern und heute,
dass die Sea-Eye 4 retten und anlegen konnte,
entschied ich mich,
links abzubiegen,
dahin, wo ich in 36 Jahren noch nie abgebogen bin. Oder zumindest erinnere ich mich nicht daran.
Der Cache war schnell erledigt.
Und so blieb Zeit für den Friedhof. Die Gräber. Eines am anderen. 1800 Stück. 1675 Geflüchtete. 125 Soldaten. 1800 Menschen. 1800 Geschichten. 1800 Familien, die trauerten.
Hier, in Oksbøl, wurden sie aufgenommen.
Deutsche.
Fliehend aus dem Osten.
Über das Meer.
Viele von ihnen kamen nie an.
Ertranken in der Ostsee.
Aber viele wurden gerettet.
Und an Land gebracht.
Dänemark war Palermo.
Palermo heute ist
das Dänemark von damals.
Was damals
das Flüchtlingslager in Oksbøl war für die Deutschen, ist heute Camp Moria für Menschen aus Gambia, Syrien, Afghanistan.
50 Jahre danach:
Deutsche danken Dänemark.
Steht da auf dem Stein,
neben dem gepflanzten Ginkgo.
Das war 1997.
Heute, 74 Jahre danach: Frage ich mich,
warum wir in Deutschland überhaupt diskutieren,
ob man Menschen rettet oder nicht.
Ich frage mich, was schief läuft,
wenn mit zynischen Kommentaren reagiert wird
auf die Rettung von Menschen aus Seenot.
Ich frage mich, wie es dazu kommt,
dass wir Angst haben müssen, dass Parteien an die Macht kommen,
die das hier alles leugnen und als Vogelschiss abtun.
Ich lese von Anna Rutkowski aus Liewenberg,
deren Zwillinge auf der Flucht geboren wurde,
aber nicht überlebten.
Und denke an das Baby,
das letzte Woche
im Flugzeug bei der Flucht aus Afghanistan
geboren wurde. Es lebt. Gott sei Dank!
Ich lese von Erwin Drewes, der die Flucht 1939 nicht überlebt hat,
weil das Vorpostenboot auf eine Seemine traf. Dänische Fischer bargen seinen Leichnam. Und heute Nachmittag las ich unter einem Facebook-Post von Sea-Eye von Hadeel, der schreibt: „Ich brauche deine Hilfe. Mein Bruder ist am Donnerstag, 27. August ertrunken, als das Boot auf See kenterte. Wir erhielten Nachricht von der libyschen Küstenwache, dass du um Zeitpunkt des Unfalls Menschen gerettet hast. Ich möchte sicher gehen, dass du Menschen gerettet hast oder nicht…“
Ich lese von Familie Büssow,
die 1945 ihren Hof in Puppendorf verlassen musste.
Über Oxhöft und die Halbinsel Hela gelangen sie nach Kopenhagen.
„Die Überfahrt war ein einziges Risiko,
überall lauert der Russe mit seinen Torpedo-Booten.“
Und ich denke an die vielen gehässigen Kommentare
zur Seenotrettung, die sagen:
„Wer ist schon so bescheuert und riskiert sein Leben auf dem Mittelmeer?“
Heute geht es um das Leben von Yaya, Alagie, Nadia, Buam, Esala, Bridu, Giada und Majid. Auf den Grabsteinen in Oksbøl stehen diese
Namen: Emilie, Wilhelm, Marta, Erna, Kurt, Friedemann, Helmut. Geflüchtete. Geliebte. Menschen. Damals wie Heute.
Gottesdienste in den Pflegeheimen im August 2021 im Rahmen der Sommerpredigtreihe "Heiter bis wolkig, mitunter Segen"
Bestimmt erinnern Sie sich an ganz viele
Kinderzeichnungen. Aus Ihrer eigenen Kindheit. Oder Bilder, die Ihre Kinder, ihre Enkel oder gar Ihre Urenkel gemalt haben. Die
vielleicht am Kühlschrank hingen oder an der Küchentür.
Oder zusammengerollt und mit Schleife versehen zum Geburtstag verschenkt
wurden. Wissen Sie noch? Auf ganz vielen dieser Bilder ist eine Sonne zusehen –
und meistens mit einem lachenden Gesicht.
Mich fasziniert das.
Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals zu meiner Tochter gesagt hab: Mal
eine Sonne mit lachendem Gesicht. Und trotzdem hat sie genau so gemalt. Wie
alle anderen Kinder auch.
Ich habe mich ehrlich gesagt nicht damit beschäftigt, was da die
Entwicklungspsychologie dazu sagt. Und ich weiß auch nicht, seit wann man
dieses Phänomen bei Kinderzeichnungen beobachten kann. Aber ich glaube, dass es
etwas mit dem zu tun hat, was tief in uns Menschen drin steckt. Und mit einer
Sehnsucht zu tun hat, die uns unser ganzes Leben begleitet: Die Sehnsucht nach
Wärme und Licht. Nach Sonnenstrahlen. Die ist im Menschen angelegt.
Und in einem Sommer, der so ein bisschen kein richtiger Sommer ist, spüren wir
das um so mehr: die Sonne fehlt uns – und egal, wo man hinkommt: alle reden
darüber.
Warum das so ist? Vielleicht finden wir es heraus.
Ich habe mich auf die Suche gemacht. Nach Sonnenstrahlen in der
Bibel. Vielleicht helfen sie uns zu verstehen, warum die Sonne für uns Menschen
so wichtig ist.
Ein erster
Sonnenstrahl begegnet uns ganz am Anfang der Bibel. Da, wo von der
Schöpfung erzählt wird.
Gleich am ersten Schöpfungstag hat Gott das Licht erschaffen. Aber das war
zuerst einfach nur „Licht“ und „Finsternis“. Erst am vierten Schöpfungstag kam
Ordnung in die Sache und es heißt: „Lichter sollen am Himmelsdach entstehen, um
Tag und Nacht voneinander zu trennen. Sie sollen als Zeichen dienen, um die
Feste, die Tage und Jahre zu bestimmen.“
Einen Tag zuvor hat Gott die Pflanzen erschaffen, die ganze
Vegetation. Wir alle wissen: Ohne Sonne wächst nichts. Ohne Sonne produzieren
Bäume keinen Sauerstoff. Ohne Sonne wächst weder Getreide, noch Kartoffeln,
noch Tomaten. Die Sonne ist der Antrieb, der die die Welt am Leben erhält.
Und: die Sonne ordnet die Zeit. Sie gibt nicht nur den
Rhythmus der Natur vor, sondern auch den Rhythmus der Menschen. Zu diesem
Rhythmus gehören nicht nur Tage und Jahre, sondern auch Feste – und Zeiten ohne
Feste. Nicht umsonst werden viele Feste von der Sonne abhängig gemacht: Die
Sommersonnwende ist vor allem im Norden eines der größten Feste. Unser
Weihnachtsfest ist an der Wintersonnwende orientiert, die die Menschen
feierten, lange bevor es das Christentum gab. Die Sonne macht also, dass unsere
innere Uhr funktioniert. Und deshalb brauchen wir sie.
Ein
weiterer Sonnenstrahl: Die Sonne der Gerechtigkeit. Von ihr haben wir auch
gerade gesungen.
Da wird die Sonne zum Gleichnis. Es begegnet uns am Ende des Ersten Testaments
im Buch des Propheten Maleachi. Dort wird unterschieden zwischen den Menschen,
die sich an Gott halten und den anderen. Und dann heißt es da: „Dann wird die
Sonne der Gerechtigkeit aufgehen für euch, die ihr meinen Namen fürchtet. Unter
ihren Flügeln gibt es Heilung.“
Wenn man weiß, dass im alten Orient die Sonne als Scheibe mit zwei Flügeln
dargestellt wird, wird deutlicher, was gemeint ist: Flügel beschützen und geben Halt
und Sicherheit. Sie halten die Sonne am Himmel. Die Sonne der Gerechtigkeit beschützt, was zerbrochen ist und
Zeit braucht, um Heil zu werden.
Gerade haben wir gesungen: „Lass uns deine Herrlichkeit sehen auch in dieser
Zeit und mit unserer kleinen Kraft suchen, was den Frieden schafft.“
Die Sonne der Gerechtigkeit strahlt, wenn Menschen sich ein Herz fassen und
ihren Streit beseitigen – obwohl sie ein halbes Leben lang nicht mehr
miteinander geredet haben.
Die Sonne der Gerechtigkeit strahlt, wenn jemand Kuchen vorbeibringt und damit
zeigt: „Opa, ich denk an dich, auch wenn du jetzt nicht mehr bei uns wohnen
kannst.“ Die Sonne der Gerechtigkeit scheint, wenn eine jahrelang leerstehende
Wohnung nun doch vermietet werden soll – an eine Familie, die in Not ist und
noch nicht einmal richtig deutsch kann. Die Sonne der Gerechtigkeit scheint,
wenn Menschen von hier ins Ahrtal fahren und den Menschen dort helfen, die
Flutschäden an den Häusern und in den Seelen zu bewältigen.
Und die Sonne der Gerechtigkeit scheint, wenn Menschen laut ihre Stimme erheben
und auf Ungerechtigkeit und Verantwortungslosigkeit aufmerksam machen.
Ein dritter
Sonnenstrahl: Ostern.
Die Sonnengeschichte in der Bibel überhaupt.
Und sie beginnt, ganz spektakulär, mit einer Sonnenfinsternis. Sie alle haben
es schon erlebt: immer mal wieder kommt es vor, dass sich der Mond zwischen
Sonne und Erde schiebt. Ich erinnere mich sehr gut an die totale Sonnenfinsternis
am 11. August 1999. Morgen sind es 22 Jahre. Da war ich in der Pampa im Norden Dänemarks unterwegs und dort
wurde es mitten am Tag tatsächlich richtig dunkel. Das Licht hat sich
verändert, und, was ganz komisch war: Die Vögel waren in höchster Aufregung.
Sie haben zuerst ganz laut Alarm gezwitschert, weil sie merkten: es ist was aus
dem Takt. Und dann sind sie plötzlich verstummt. Und es war still wie mitten in
der Nacht. Vormittags um 11 Uhr.
Es war, als ob die Welt für ein paar Minuten still stand.
Und dann fingen die Vögel wieder an zu zwitschern – wie früh am Morgen – und
sie kehrten ins Leben zurück. Verrückt. Ein bisschen wie Ostern. „Es war die
sechste Stunde, da breitete sich die Finsternis über das ganze Land. Sie
dauerte bis zur neunten Stunde. In der neunten Stunde schrie Jesus laut: „Mein
Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Markus 15,33f) Als Gott stirbt, ist die Sonne weg. Das Licht, das die Welt am Leben erhält,
ist verloschen. Das war der absolute Stillstand. Mehr Tod geht nicht. Wäre die
Geschichte an dieser Stelle zu Ende gewesen, säßen wir heute nicht hier. Aber sie
ging weiter. Die traurigen Menschen mit ihrer Dunkelheit in der Seele gingen
zum Grab, am Morgen, als die Sonne aufging. Und da sagt dann der Engel:
„Fürchtet euch nicht! Jesus ist nicht hier, Gott hat ihn von den Toten
auferweckt. Jesus geht euch voraus nach Galiläa. Ihr werdet ihn dort sehen.“ Und
so ist diese Sonnengeschichte eine Mutmachgeschichte. Die Ostersonne geht
nämlich auf, obwohl es in den Herzen und Seelen der Menschen noch dunkel ist. Da
leuchtet was aus der Ewigkeit in diese Zeit, obwohl nicht alles gut ist. Obwohl
uns was weh tut, an Leib oder Seele. Obwohl es Streit und Krach gibt. Und
Einsamkeit. Und Menschen, die mir das Gefühl geben, dass ich eine Last bin.
Manchmal braucht es eine Weile, bis die Sonne durch dringt und klar wird: die Finsternis
ist vorbei. Auch die Finsternis in der Seele.
Und so singen wir nochmal ein Lied von der Sonne. Und wenn Sie jetzt die Sonnenstrahlen auf Ihrer Haut spüren, dann
fühlen Sie sie ganz bewusst als Sonnenstrahlen Gottes, die Sie bescheinen. Und
die nicht nur Ihre Haut, sondern auch Ihre Seele wärmen.
Amen.