Sonntag, 14. August 2016

Lahm sind wir nicht. Aber festgelegt.

Predigt im Rahmen der Sommerpredigtreihe im Neuffener Tal am 14. August 2016 in Kohlberg und Frickenhausen.

"Jesus, der Heiler"



Gnade sei mit euch und Friede,
von dem der war und der ist und der kommt! Amen.

Aus dem Johannesevangelium, Kapitel 5:
Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf Hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen; in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte. Es war aber dort ein Mensch, der lag achtunddreißig Jahre krank. 
Als Jesus den liegen sah und vernahm, dass er schon so lange gelegen hatte, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden? Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein. Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin.

I. 38 Jahre
38 Jahre liegt er dort.
Schäbig die Matte und staubig der Boden.
Stinkend die spärlichen Lumpen am Leib.
Kaum mehr ein Zahn im Mund.
Trübe
das bisschen Wasser
im dreckigen Krug.
Vertrocknet
ein Stück Brot
von vorletzter Woche,
- die Schwester brachte es damals vorbei -
zerfressen
von den Ratten
in der Nacht.
38 Jahre einsam
in der Masse der Kranken und Hoffnungslosen.
38 Jahre lahm
und lange Zeit festgelegt
auf diesen einzigen Ort der Hoffnung.
Festgelegt auf diese einzige Chance:
wenn sich das Wasser bewegt.
38 Jahre Opfer einer Gesellschaft,
die die Aussätzigen vor den Stadtmauern isoliert
und die Blinden auf die Straße schickt
und die Lahmen liegen lässt in ihrem Elend.
38 Jahre festgelegt
auf diese einzige Chance,
die keine ist.
Weil es Tausende sind
die warten
und hoffen
und warten
und sterben.
38 Jahre warten auf Erlösung.
38 Jahre sterben in Raten.
Lahm und festgelegt.
Eine Ewigkeit
warten
auf den einen
göttlichen Moment
der vielleicht
alles ändert.



II. Nochmal 38 Jahre

Wenn man,
wie ich,
38 Jahre ist
und Familie und Freunde
und Haus und Hund
und Beruf und Auto
und vor allem
Hoffnung hat.
Wenn man gesund ist
und jeden morgen aufstehen darf,
wenn man sich am Regenbogen
und am Meeresrauschen
und am Wein
und am Lachen von Kindern
und an den Gehaltszahlungen
auf dem Konto
freuen darf,
dann sind 38 Jahre
nur ein ganzes Leben.
38 Jahre,
in denen gelacht und geweint,
gesungen und getanzt,
geliebt und gefeiert wurde.
Dem eigenen Tod
und dem eigenen Sterben so fern
wie die Nacht vom Tag.
38 Jahre, von denen es
locker nochmal so viele
sein dürfen.
Ein erfülltes Leben
voller göttlicher Momente.
Geschenke des Augenblicks.
Nicht jeden Tag gleich
und lahm schon gar nicht.
Aber manchmal,
das gebe ich zu,
festgelegt.
Festgelegt auf das Gute.
Und das Leben.
Und das Heilsein
an Leib
und Seele.



III. Haus der Barmherzigkeit / Jerusalem 0021


Betesda
Haus der Barmherzigkeit
oder auch
Haus der Gnade genannt.
Bedeutungsvoll sind
diese Namen.
Nicht gerade passend
für einen Ort
wie diesen.
Eine Zisterne
im antiken Jerusalem -
aber kein Brunnen wie viele andere.
Nicht nur eine Quelle,
sondern große Becken.
Nicht irgendein Wasser,
sondern Kanäle,
die das kostbare Nass
aus Tiefen und Untiefen
herbeiführten.
Wunderwerk
der damaligen Technik
durch Schleusen
und Tore
und Hebewerke.
Verborgen in den Tiefen der Stadt
hineingemeiselt in Felsen
das Werk 
von Tüftlern
und Denkern
um die Stadt
und den Tempel
aus der Tiefe
mit Wasser zu versorgen.
Jerusalem 0021.



IV. Prinzip Hoffnung


Wundersames passiert
an dieser Stätte,
an der man sich trifft
zum Vieh tränken
und Wäsche waschen
und Baden
und Tratschen.
Und zum Gesundwerden.
Geschichten und Märchen
erzählt man sich
über das Wasser,
das sich ganz bestimmt
durch die Hand
eines Engels
bewegt.
Der erste, der nach der Unruhe
ins Wasser steigt, sei gesund,
sagen sie.
Und hoffen sie.
Und glauben sie.
In den Wellen
spiegeln sich
die Gesichter der Zerbrochenen.
Ein Funken Hoffnung
glimmt in den dunklen Augenhöhlen
wenn Bewegung ins Wasser kommt
und in die Masse
der Lahmen und Festgelegten.
Die Hebewerke im Untergrund
pumpen und ächzen
und lenken den Strom,
Quelle des Lebens
für die Stadt.
Und die Menschen
glauben
und hoffen.
Und warten.
Lahm und zerbrochen.
Und festgelegt
in ihren Vorstellungen
vom Heil ihres Körpers
und ihrer Seele.

V. Der Erste sein
Lahm und festgelegt,
seit 38 Jahren
dem Unheil verschrieben,
wartet er.
Mit Bitterkeit im Herzen
und Dunkelheit in der Seele,
hat man die Nase nicht vorn
am Beckenrand.
Lahm und festgelegt,
verlassen und einsam,
fällt man schnell
durch die Maschen
eines Sozialsystems.
Schimpfen? Nützt nichts.
Lamentieren? Ändert nichts.
Streiken? Macht nichts.
Wenn doch nur einer käme
und ihn nach vorne brächte
zum Wasser,
zum Heil.
Einer würde reichen,
der rechtzeitig da wäre
und stark genug ist,
um das für ihn durchzuboxen.
Nur einer ist der Erste
und nur einmal will er
dieser Eine sein.
Aber niemand ist da,
der das für ihn in die Hand nimmt.
Niemand.

VI. Willst du gesund werden?

Jesus steht auf der Matte.
Es ist eine einfache Frage die er stellt.
Willst du gesund werden?
So einfach die Frage,
so kompliziert die Antwort:


Herr, ich habe keinen Menschen,
der mich in den Teich bringt,
wenn das Wasser sich bewegt;
wenn ich aber hinkomme,
so steigt ein anderer vor mir hinein.

Sozialneid.
Die anderen bekommen,
was mir zusteht.
Seit 38 Jahren
stehe ich Schlange!
Alle anderen
sind schneller als ich.
Seit 38 Jahren
warte ich auf ein Wunder!
Aber die, die nach mir kamen
sind vor mir geheilt.
Seit 38 Jahren
bettle ich um Hilfe!
Aber die anderen bekommen sie.

Ein einfaches Ja hätte genügt.
Er ist nicht nur lahm.
Er ist festgelegt.
Festgelegt
auf seine Rolle als Opfer.
Festgelegt
auf seine Vorstellungen
von guten und schlechten Menschen.
Festgelegt
auf seine Vorurteile.
Bisher hat ihm keiner geholfen,
warum sollte der Mann,
der jetzt vor ihm steht,
ausgerechnet ihm helfen?
Er kennt ihn doch überhaupt nicht.


VII. Auf der Matte
Jesus steht auf der Matte.
Damals am Teich Betesda.
Als Kranke und Lahme
und Aussätzige und Sonderlinge
warteten
auf das Heil ihrer Seelen
und ihres Körpers.
Jesus steht auf der Matte.
Heute.
Bei dem Familienvater,
der gegen die Arbeitslosigkeit kämpft
und bei der Mama
die sich für ihr verhaltensoriginelles Kind schämt.
Er steht auf der Matte
bei der Seniorin,
deren Seele einsam und verbittert ist,
weil niemand zu Besuch kommt.
Und bei dem Kind,
das Nacht für Nacht von Alpträumen geplagt wird.
Jesus steht auf der Matte
bei dem Jugendlichen,
dessen Egoismus ihn Freundschaften kostet.
Und er steht auf der Matte,
bei mir.
Und bei uns allen.


VIII. Lahm sind wir nicht, aber festgelegt

Lahm sind wir nicht, aber festgelegt.
Festgelegt
in unseren Vorstellungen.
Festgelegt
in unseren Werten.
Festgelegt
in unseren Ängsten,
Befürchtungen,
Überzeugungen und
Kränkungen.
Lahm sind wir nicht, aber festgelegt.
Auf unsere Idee
die Welt zu deuten
und das Elend um uns herum
und die Systeme und
Verhältnisse der Macht.
Lahm sind wir nicht, aber festgelegt.
Vor allem wenn es darum geht
ein einfaches JA zu sagen,
auf eine einfache Frage:
Willst du gesund werden?

IX. Ende der Festlegung
Das Verrückte daran:
Jesus diskutiert nicht.
Er geht auch nicht weiter
oder verdreht ungeduldig die Augen.
Jesus spricht:
Steh auf, nimm dein Bett und geh hin!
Und sogleich wurde der Mensch gesund
und nahm sein Bett
und ging hin.

Jesus
beendet die Festlegung.
Aufstehen
und gehen
muss ich selbst

Amen.

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