„In der Zwischenzeit ist ganz schön viel passiert!“
Jesus
sitzt am Küchentisch. Vor ihm eine dampfende Tasse Kaffee, ein Stück Hefezopf und die Zeitung. In der liest er aufmerksam.
Es ist nicht so, dass Jesus eine Zeitung nötig gehabt hätte.
Schließlich ist er
Gott und hat deshalb den Überblick über die Geschehnisse in Raum und Zeit - und
es deshalb gar nicht nötig, jeden Tag über irgendwelche Dinge zu lesen, die in
der Welt passieren. Aber Jesus liest trotzdem gerne Zeitung. Laut. Und er
kichert dabei. „Tischtennis-Landesklasse. TSV Wendlingen 9:3 gegen den TGV Roßwälden. Läuft bei denen!“. Jesus nickt anerkennend.
„In der Zwischenzeit hat sogar der VfB mal gewonnen. 1:0 gegen Nürnberg. Das
ist ja wohl mindestens bemerkenswert!“ Seraffiel lehnt für Engelsverhältnisse
betont lässig im Türrahmen und hält sich an der Kaffeetasse fest. „Bisschen Auferstehung hat noch keinem
geschadet, auch dem VfB nicht.“
„Korrekt!“ Jesus nickt anerkennend. „Es ist schon gut, dass die Menschen in der
Zwischenzeit gelernt haben, auch kleine Erfolge zu feiern und wertzuschätzen.“
„Ach, deshalb bist du nicht frustriert?“
„Warum sollte ich frustriert sein?“ Jesus blickt den Engel erstaunt an.
„Weil sich kein Mensch mehr,“ so erklärt der Engel, „für die Kirche
interessiert, für den Glauben. Und für dich schon gleich gar nicht! Dabei hast
du doch alles gegeben! Aber: die kommen offensichtlich auch ohne Dich klar.“
„Stimmt!“ Jesus nickt zustimmend. „Ich hab alles gegeben. Aber wo genau ist
jetzt dein Problem?“
„Lies doch mal: Die Zeit der Konfessionen geht zu Ende. Mit dem christlichen
Gehalt des Osterfestes wissen viele Menschen nichts mehr anzufangen. Hier steht
es schwarz auf weiß.“
„Konnten sie es damals?“ Jesus schaut Seraffiel irritiert an. „Immerhin musstest du als großer Fürchte-dich nicht-Engel erst mal hart
durchgreifen, damit nicht alle davonrennen.“
Seraffiel atmet tief ein und aus. Und erinnert sich an damals, als Jesus zum
ersten Mal auferstanden war und die Frauen ihn angesehen hatten, als hätten sie
es mit einem Alien zu tun.
„Das war ja auch… äh… echt ne harte Nummer. Die wussten das doch gar nicht,
dass du nicht tot sein würdest!“
„Stimmt. Aber auch damals war nicht allen klar, was sie mir bedeuten. Deshalb
brauchte ich dich. Um den Menschen zu helfen, die Situation richtig
einzuordnen.“ „Und heute??“ Seraffiel schenkt Kaffee nach. „Muss ich heute auch noch helfen,
die Situation einzuordnen?“
„Natürlich. In der Zwischenzeit mag sich zwar vieles verändert haben in dieser
Welt. Aber eines ist kein bisschen anders. Nämlich, dass mir diese Menschen
sehr viel bedeuten.“
Jetzt schaut Seraffiel genervt und redet sich in Rage. „Jetzt dreh das doch nicht immer alles um! Du kannst die Menschen noch so sehr
lieben! DU bedeutest den Menschen nichts! Oder nicht mehr viel! Du kannst sie
noch so sehr lieben – wenn sie dich nicht zurück lieben – dann ist das doch
völlig sinnlos!“
„Nein, es ist nicht sinnlos.“ Jesus bleibt überraschend ruhig. „Meine Liebe zu
den Menschen ist nicht an Bedingungen geknüpft. Noch nicht mal daran, dass sie
erwidert wird. Und deshalb kann ich sie auch nicht zwingen, an irgendetwas zu
glauben. Egal, welche Religion.“
Seraffiel hat sich wieder einigermaßen im Griff, aber wenn sie jetzt schon
dabei sind, dann will er dieses Thema mit Jesus ausdiskutieren.
„Aber was ist mit dem ganzen Schmerz? Mit dem Leid? Mit den ganzen
Schlagzeilen, die die Menschen runterziehen? Eine tote 10jährige in der
Jugendhilfe-Einrichtung. Fachkräftemangel in der Pflege. Klimaerwärmung, Krieg,
Tod und Teufel. Herrgott nochmal! Da frag ich mich wirklich, was mein ‚Fürchte
dich nicht‘ da noch bringen soll!“ Genervt schlägt Seraffiel etwas unengelhaft
mit der flachen Hand auf den Küchentisch.
Das bringt Jesus allerdings nicht aus der Ruhe: „Ich kenn das. Sagt doch
niemand, dass in der Zwischenzeit alles gut geworden ist. Ich mach das doch mit
den Menschen alles mit. Glaubst du, ich wüsste nicht, wie sich all das anfühlt?
„Schon klar!“ erwidert der Engel. „Ich weiß, du bist der Einzige, der der da
vollumfänglich mitreden kann.“
Und Jesus fügt hinzu: „Und ich bin der Einzige,
der zuverlässig weiß, dass nach dem Tod nicht das Ende ist.“ Jesus steht auf
und legt Seraffiel die Hand auf die Schulter.
„Weißt du, Seraffiel, wir leben jetzt in der Zwischenzeit. Und deshalb sehen die
Menschen alles wie durch verspiegeltes Glas als dunkles Bild. Sie sind noch gar
nicht in der Lage, all das zu begreifen, was um sie herum ist. Aber eines Tages
werden sie sehen, wie alles wirklich ist und wie die Dinge miteinander
zusammenhängen. Jetzt erkennen sie nur stückweise, wie das mit dem neuen Leben
einmal sein wird; am Ende aber werden sie mich erkennen und verstehen, wie
alles wirklich ist. Bis dahin brauchen die Menschen dich. Dein
Fürchte-dich-nicht. Und deinen Blick für kleinen Auferstehungswunder im
Alltag.“
Seraffiel schaut nachdenklich aus dem Fenster, während Jesus sich wieder seiner
Zeitung zuwendet.Über sein Gesicht huscht ein Lächeln, als er laut vorliest:
„Vom Flüchtling zum Bürgermeister. Ryyan Alshebl floh 2015 über das Mittelmeer
aus Syrien nach Deutschland. Er wird er Bürgermeister in Ostelsheim und der
erste Rathauschef mit syrischen Wurzeln in Baden-Württemberg.“
„Das hätte sich vor ein paar Jahren noch niemand vorstellen können.“
stellt Seraffiel fest.
„Siehst du, Seraffiel, die Menschen können also durchaus
unterscheiden, ob ihnen ein Fürchte-dich-nicht-Engel etwas ins Herz legt oder
Hui-Buh, das Schlossgespenst. Du hattest da doch die Finger im Spiel?“
Seraffiel grinst. „Natürlich. Und beim VfB auch.“